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Berichte

Das Reich der Freiheit

Zwei mal Händel: »Semele« in Berlin – »Berenice« in Halle

Die Alte Musik ist das Reich der Freiheit, je älter, desto unbegrenzter. Das erklären zumindest die in diesem Metier tätigen Musiker immer wieder. Bei Georg Friedrich Händel stünde ihnen allerdings fast schon zuviel Festlegendes in den Noten. Am Ende der letzten Opernsaison waren Jörg Halubek und das Händelfestspielorchester in Halle sowie das Orchester der Komischen Oper unter Konrad Junghänel in Berlin mit Händel beschäftigt. Alle spielten natürlich, was der Großmeister aus London ihnen vorgegeben hatte, aber wie sie das taten!

Konrad Junghänel konnte mit einem Spezialistenensemble und den Musikern der Komischen Oper Schwung holen für den großen Atem, fein ziseliert an Rezitativ-Formen arbeiten, sinnliches Girren von sattem Liebesschwelgen klanglich unterscheiden, Luft und Leben in jeden einzelnen Takt geben, reichliches Kreischen, Klatschen, Juchzen auf der Bühne und verfeinert im Graben zelebrieren. Barock sei Rock, sagt er und spielte auch so. „Semele“, offiziell ein Oratorium, bietet großen musikalischen Raum.

Svitlana Slyvia (Selene), Filippo Mineccia (Demetrio). ©: Theater, Oper und Orchester GmbH Halle, Foto: Anna Kolata

Svitlana Slyvia (Selene), Filippo Mineccia (Demetrio). ©: Theater, Oper und Orchester GmbH Halle, Foto: Anna Kolata

Jörg Halubek hatte ein reines Spezialistenensemble zur Verfügung. Bei der „Berenice, Regina d’Egitto“ kam es auf die genau erfassten Stimmungen jeder einzelnen Arie an. Die Stimmungen und Tempi konnte der Dirigent vom Cembalo aus sehr differenziert anheizen, bremsen, farblich variieren, emotional balancieren. Es war eine Lust, den Musikern bei ihrer großräumig koordinierten Detailarbeit zuzuhören.

Den Glanzpunkt setzten die Solo-Oboe und die Titelheldin mit ihrem aus dem Graben heraus musizierten „Duett“; kurzer Ausstieg aus der Handlung als Verbeugung vor der Musik.

„Berenice“ entstand 1737, als Händels Opernunternehmen kriselte, als er drei neue Opern schreiben musste, weil die vorhandenen nicht mehr liefen. Am Ende stand der körperliche Zusammenbruch. Die ägyptische Titelheldin soll aus Staatsräson den Römer Alessandro heiraten, will erst nicht und findet sich schließlich doch ganz gern damit ab. Dazwischen liebt es sich kreuz und quer. Musikalisch zeigt sich Händel als Routinier allererster Klasse. Gerade darin fand der Regisseur Jochen Biganzoli den ihn interessierenden Widerspruch: „Im Libretto liest man von Vorgängen wie Zwangsheirat, Volksaufstand, Kriegsdrohungen, ein Drama. Dann kommt die Musik in einem späten galanten Stil und die hat, von einer Arie abgesehen, nichts von dieser Tiefe.“ „Apart, gut gemacht, oberflächlich plätschernd“, fand Biganzoli. Vielleicht, so der Regisseur, wollte Händel eine oberflächliche Welt beschreiben, „die keine Werte und kein Koordinatensystem mehr hat, in der jeder seinen persönlichen Vorteil sucht“. Dies habe allerdings einen deutlichen Gegenwartsbezug. Den zweiten Aspekt seines Inszenierungsansatzes fand Biganzoli in der musikalischen A-B-A‘-Form. Die berufsspezifische Deutung des Regisseurs: „Sie beginnen im A‘-Teil mit der Selbstdarstellung“, den Figuren sei weniger wichtig, was sie tun, wenn sie sich dabei nur „irre geil“ in Szene setzen könnten. Folgerichtig wimmelt es auf der Bühne von Handys, Life-Kameras, Selfie-Sticks, es flimmert von Chats, Filmchen, Bildchen. Leid und Lust elektronisch „in Echtzeit“. Das ist so nervig wie unterhaltend, so urkomisch wie tieftraurig und spiegelt uns ganz ohne Spiegel. Das Bühnenbild von Wolf Gutjahr ist ein liegendes Hamsterrad voller Glitzer und Projektionsflächen; alle hetzen, keiner kommt vorwärts. Katharina Weissenborns Kostüme verschmelzen Allongeperücken mit Jeans und scheren sich nicht den Deut ums Korrekte. Irgendwann zieht einer den Stecker. Szenenapplaus für Counter Filippo Mineccia.

Nicole Chevalier als Semele und die Chorsolisten der Komischen Oper Berlin. Foto: Monika Rittershaus

Nicole Chevalier als Semele und die Chorsolisten der Komischen Oper Berlin. Foto: Monika Rittershaus

In der Titelpartie Halles Diva assoluta Romelia Lichtenstein. Ihre Darstellung gewinnt im Laufe des Abends unglaublich an Fahrt und gipfelt im Tiefpunkt der Verzweiflung. Ganz ohne Selfie einsam nachts am Kühlschrank beim singenden Frust-Naschen. Die Sensation des Abends aber war der erst 20-jährige Sopranist Samuel Mariño, süßer Sonnyboy mit glasklarer Höhe. Auch alle anderen: gesanglich perfekt, spielfreudig, eine Augen- und Ohrenweide. Damit ist nun auch die 42. aller Händelopern in Halle herausgekommen, das Œuvre ist komplett.

Ist die Handlung der „Berenice“ glitzernde Oberfläche, so geht es in „Semele“ um Leben und Tod. Leichtgläubige Eitelkeit und umstürzende liebende Unbedingtheit, Aufbegehren gegen „naturgewollte“ Ordnung in der gesellschaftlichen Hierarchie, Unkontrollierbares wie Schlaf, Traum, Tod und Verwandlung, alles kommt vor. Königstochter Semele soll nach dynastischen Gesichtspunkten heiraten, liebt aber keinen Geringeren als den obersten der Götter, Jupiter. Die eifersüchtige Göttergattin Juno flüstert ihr ein, sie solle von Zeus verlangen, sich ihr einmal in seiner wahren göttlichen Gestalt zu zeigen. Semele nötigt Jupiter den Liebesschwur ab, ihr jeden Wunsch zu erfüllen; er kann nicht zurück und weiß doch, er wird sie töten. Selbst unter dem schwächsten seiner Blitze verbrennt sie zu Asche. Vorher aber singt sie, Jupiters Warnung zum Trotz „I‘ll take no less than all in full excess“.

Wenn Nicole Chevalier diese Arie singt, tanzt, schwebt, torkelt, in den Koloraturen rast, dann ist diese grandiose Sängerin-Darstellerin in vollem Überschwang in ihrem Element. Sie singt sich durch Frivolität, erfüllte Liebe, dumme Eitelkeit, Unbedingtheit bis zum verhauchenden Todesweh. Genauso ergreifend, technisch exzellent und doch gefühlstief Allan Clayton als Jupiter. Seine Liebesarie ist der Gänsehautmoment der Aufführung. Im Oratorium „Semele“ hat auch der Chor große Auftritte, mal für, mal gegen die Heldin, mal mitten im Spiel, mal als Kommentator. Die Chorsolisten der Komischen Oper waren eine Idealbesetzung. Vokale Ausstrahlung, Spiel, selbst die Physis der Choristen und der vielen übrigen Solisten konnte kaum besser passen. Unaufzählbar die vielen großartigen, skurrilen, rührenden Details in Gesang und Spiel.

Die Bühne von Natacha Le Guen de Kerneizon ist ein ausgebranntes Barockschloss, schwarz. Aus einem Aschehaufen erhebt sich Semele, Regisseur Barrie Kosky lässt sie ihre Geschichte als Rückblick erzählen. Am Ende schaut sie, an allen Gliedern verbrannt und traurig, der Alles-ist-gut-Hochzeit ihrer Schwester zu. Die Götter verlassen das Spiel.

Kosky führt seine Figuren in schönster Tradition der Komischen Oper, psychologisch glaubhaft, intensiv in ihren Beziehungen, wo es passt auch kräftig auftrumpfend. Dabei streift er schon mal zart das Chargenhafte. Bei ihm ist ordentlich Oper, Puristen dürfen ein ganz klein wenig leiden. Das Beste aber ist: Beide Händel-Opern stehen auch im Spielplan der gerade beginnenden Saison.

Irene Constantin

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