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Editorial

Feudalsystem Theater?

Gibt es in Deutschland im 21. Jahrhundert noch so etwas wie Sklaverei oder Leibeigenschaft? Leider ja, wie wohl überall auf der Welt – beispielsweise im Bau- und im Sex-Gewerbe. Aber im öffentlichen Dienst??? Das hängt von der Definition ab: Geht diese dahin, dass ein Mensch seine Lebenszeit vollständig der Verfügungsbefugnis eines anderen unterstellt, lautet die Antwort: Ja, und zwar bei den künstlerisch Beschäftigten der Bühnen. Diese verfügen zwar über – teilweise beachtliche – Urlaubs-, Freizeit- und Ruhezeit-Ansprüche, aber darüber, wann diese zu realisieren sind, haben sie nicht für eine einzige Sekunde ihres Lebens ein echtes Mitbestimmungsrecht. Über alles verfügt allein der Arbeitgeber, und zwar im Extremfall sogar ohne jegliche Ankündigungsfristen.

Tobias Könemann. Foto: Johannes List

Tobias Könemann. Foto: Johannes List

Nun könnte man dies für ein Relikt aus den Frühzeiten des Normalvertrags halten – der geht letztlich bis auf das vorletzte Jahrhundert zurück –, das sich leicht einvernehmlich korrigieren ließe. Die VdO hat daher auf vielfachen Mitglieder-Wunsch in die laufenden Verhandlungen die Forderung eingebracht, doch wenigstens einzelne Tage in die Selbst-Disposition der Beschäftigten zu stellen, natürlich mit angemessenen Ankündigungsfristen etc. Und ohne damit etwa bestehende Freizeitansprüche auszuweiten. Dies sollte ein Selbstläufer sein. Die nicht näher begründete Antwort des Deutschen Bühnenvereins jedoch lautete: Nicht verhandelbar!

Geht man davon aus, dass eine solche Haltung nicht aus prinzipiellem Widerstand oder gar Schikane resultiert, muss man nach den Gründen suchen. Hier finden sich vier durchaus ineinander verwobene und sich wechselseitig verstärkende Phänomene:

Erstens eine immer noch verbreitete mangelhafte Disposition, sei es aufgrund über-ambitionierter quantitativer Proben- und Aufführungsplanung, sei es aufgrund mangelnder Kompetenz von KBBs, sei es aufgrund der Unfähigkeit von Regisseuren oder musikalischen Leitern, den Probenprozess einer Produktion sinnvoll vorzustrukturieren.

Zweitens ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber Bühnenkünstler/inne/n. Ihnen wird offenbar jedes Verantwortungsbewusstsein für ihr Haus abgesprochen – als wäre eine Aufführung, in der ein einzelner Künstler besonders wichtig ist, nicht in aller Regel auch für ihn wichtig und als könne man nicht bei drohender Kollision gemeinsam nach einer Lösung suchen. Davon, dass die „Einsichtsfähigkeit“ der künstlerisch Beschäftigten ja immer auch durch das Nichtverlängerungsrecht genährt wird, einmal ganz zu schweigen.

Drittens ein Teilaspekt des ausgeprägten Narzissmus, der vielen künstlerischen Leitungspersonen eigen und für bestimmte Formen von Kreativität vielleicht sogar notwendig ist – nämlich die Angst davor, ihre Kunst nicht optimal verwirklichen zu können, wenn sich nicht das gesamte Umfeld jederzeit und uneingeschränkt nach ihren Bedürfnissen richtet und wenn alle Produktionsmittel – einschließlich der beteiligten Künstler/innen – ihnen nicht uneingeschränkt jederzeit zur Verfügung stehen.

Viertens tief verwurzelte feudalistische Denkstrukturen: ein eindrucksvoll-bedrückendes Beispiel dafür auf einer ganz anderen Ebene ist der schon verschiedentlich in der Presse aufgegriffene Fall eines Ersten Solo-Tänzers des Sächsischen Staatsballetts, der – bis dahin gefeierter und umworbener Star – nachdem er es tatsächlich gewagt hat, einen Vorgesetzten übergriffigen Verhaltens zu bezichtigen, umgehend mit Arbeits- und Auftrittsverbot belegt und wenig später auf alle denkbaren Arten hinausgeworfen wurde.

Alle diese Faktoren muss man ernst nehmen – und zwar nicht primär im Sinne von persönlichem Verschulden einzelner Protagonisten, sondern zutiefst strukturell – und multifokal weiter- bzw. umgestalten. Das Theater nimmt für sich eine geistige und ethische Vorreiterrolle in Anspruch. Das ist gut so – das macht es gesellschaftlich unverzichtbar. Aber diese Rolle muss auf Glaubwürdigkeit gegründet sein, und die setzt voraus, dass man auch nach „innen“ die Augen nicht vor den Errungenschaften der Gegenwart verschließt.

Dies ist kein Ruf nach einem partizipativ-egalitären Theater, wie er in letzter Zeit wieder vereinzelt zu vernehmen ist. Theater braucht sowohl die Unterordnung Vieler unter den künstlerischen Willen Einzelner als auch eine besondere Flexibilität in seinen Produktionsprozessen. Aber um so sensibler muss es die Rechte derer respektieren und schützen, die sich – oft mit Leidenschaft und Überzeugung – dafür hergeben.

Tobias Könemann

 

 

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