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Weltenbrand im Wohnzimmer

Aufzeichnungen von Oper und Tanz auf CD und DVD

Lust auf ein bisschen Weltuntergang auf der Couch? Im städtischen Theater kostet ein „Ring“-Zyklus wohl an die 200 Euro, an Staatstheatern deutlich mehr. Für den Betrag könnten Dystopie-Freundin und -Freund den „Jahrhundert-Ring“ von Patrice Chéreau und Pierre Boulez aus Bayreuth (DG), die futuristische Neudeutung des Theaterkollektivs La Fura dels Baus unter Zubin Mehta in Valencia (Cmajor) und die spannende Frankfurter „Ring“-Inszenierung von Vera Nemirova und Sebastian Weigle auf Bluray-Discs (Oehms) nach Hause tragen und so jederzeit recht unterschiedliche Weltuntergänge disponibel haben: das aber bitte nicht auf dem Notebook, sondern auf einem möglichst großen TV-Schirm mit Ton über die Stereo- oder 5.1-Soundanlage.

Der Tanz-Freund hat vielleicht vor etlichen Jahren einmal ein Gastspiel des Nederlands Dans Theater erlebt und war von Jiří Kyliáns Stil tief beeindruckt; damals mag eine Reise nach Amsterdam nicht möglich gewesen sein. Inzwischen ist Kylián Tanzgeschichte, und so gibt es eine Arthaus-Box und einzelne Blurays mit Werken und eine Film-Biographie auf DVD.

Natürlich muss das Plädoyer für das Live-Erlebnis einer Aufführung an erster Stelle stehen. Doch wer außer gut betuchten und über viel Zeit verfügenden Theaterenthusiasten kann „bühnenweltweit“ zu theatralen Ereignissen reisen? Hinzu kommt: Nichts ist so flüchtig wie das theatrale Erlebnis und die meist kurze Phase einer Künstlerkarriere, speziell im Tanz und in unseren Zeiten der zwingend „telegen jung-schlank-schönen“ Sängerinnen auch auf der Opernbühne. Und: Auch wenn inzwischen in fast allen Medienkonzernen das Marketing des immer Neuen dominiert – gerade im flüchtigen Bühnenleben gibt es künstlerische Größen, die das erinnernde Festhalten verdienen und für Aktuelles und Kommendes Maßstäbe setzen. Also sollte der Tanzbegeisterte „Mary Wigman – The Soul of Dance“ (Arthaus) kennen. DVDs von Margot Fonteyn und/oder Rudolf Nurejew (VAI und Kultur) setzen das Niveau für zeitgenössische Neuinterpretationen. Und was wäre die Opernwelt ohne die von Kenner Dieter Fuoß vor Jahrzehnten für die damalige EMI weltweit aufgekauften, anfangs „illegalen“ Live-Mitschnitten von Auftritten der jungen Maria Callas? Muss der Opern-Fan nicht die von den Konzernen vernachlässigte „Schatten-Callas“ Magda Olivero mit ihrer „Adriana Lecouvreur“ mit dem Dreigestirn Corelli/Simionato/Bastianini“ als illegalen Mitschnitt wertschätzen? Was gäben Musiktheaterfreunde für leider unterbliebene Aufzeichnungen von Wieland-Wagner-Inszenierungen? Sind nicht Mitschnitte von Carlos Kleiber und Leonard Bernstein – er sogar mit seinen TV-Gesprächskonzerten und Vorlesungen – zu Klassikern geworden?

Trotz aller „on demand“- und „streaming“-Dienste sowie genereller Klassik-Umsatzprobleme, die Oper- und Tanz-DVDs noch hinter den LP-Käufen rangieren lassen: Es erscheinen neue Aufzeichnungen. Opernhäuser, die ihren Weltrang manifestieren wollen – San Francisco, New York, London, Paris, Mailand, Wien, München – zeichnen einen unterschiedlich großen Teil ihrer Produktionen auf, voran Londons Royal Opera unter Antonio Pappano; er steht im „Markt“ für klassische „Italianitá“, und seine Erläuterungen und Proben-Ausschnitte im Bonus der meisten DVDs (Sony) vermitteln zumindest im Kleinen, was generell an musischer Bildung heutzutage verloren gegangen ist.
In vor-digitalen Jahrzehnten war die Aufzeichnung einer Theateraufführung noch mit enormem Aufwand verbunden: meist Mitschnitt von drei Aufführungen in gleicher Besetzung binnen weniger Tage; Sichtbehinderung und Wegfall von Plätzen durch bis zu fünf Großkameras im Zuschauerraum; angesichts lichtschwacher Objektive deutliche Aufhellung des Bühnenlichts – anders als vom Regieteam inszeniert. Das hat sich grundlegend geändert. Da Live-Mitschnitt und TV-Sendung lange vorher feststehen, kann angesichts hoher Probenanforderungen meist ohne Nachaufnahmen der digitale Mitschnitt auch als DVD erscheinen und vermittelt sicht- und hörbar Live-Atmosphäre.

Völlig unterbelichtet ist bisher die Rolle des Regisseurs der Aufzeichnung; er wird natürlich auf der Cover-Rückseite genannt, doch sein Zusammenwirken mit dem Bühnenregisseur ist nicht greifbar. Bekannt wurde, dass sich Patrice Chéreau bei der Aufzeichnung des Bayreuther Jahrhundert-Rings eine eigene Kamera ausbedungen hat und den gesamten Bildschnitt mitbestimmte. Von dem lange Zeit opernweltweit dominierenden Brian Large ist bekannt, dass er mit seinem Kamera-Team selbstbestimmt unabhängig vom Bühnenregisseur arbeitete. Ob es da divergierende Schwerpunkte oder Sichtweisen gab, hat die Fachkritik bislang nicht untersucht.

Im deutschsprachigen Raum erarbeitete sich das kleine Label Oehms Classics unter seinem bisherigen Chef Dieter Oehms eine Sonderstellung. 1996 begann er mit Aufzeichnungen von den Seefestspielen Mörbisch. Die allabendlichen bis zu 7.000 Operettenfreunde wollten gerne eine tönende und zunehmend auch visuelle Erinnerung an den Abend mitnehmen. In den letzten Jahren nimmt Oehms etwa ein halbes Jahr vor der Bühnenpremiere mit den musikalisch Beteiligten die Sommerpremiere auf, so dass am Abend der Aufführung die CD-Box gekauft werden kann – der hohe Umsatz hier ermöglicht durch Querfinanzierung dann den Mitschnitt von weniger Populärem: so etwa die Aufzeichnung von Meyerbeers „Le Prophète“ in der neuen, kritischen Partitur-Ausgabe aus dem Aalto-Theater Essen.

In der reichen deutschen Opernszene ragt die Oper Frankfurt seit der Intendanz Bernd Loebes heraus – auch durch Aufzeichnungen. Loebe betrauert heute noch, dass die vielgerühmte „Ära Gielen“ nicht dokumentiert wurde – und fand in Oehms einen ähnlich interessierten Partner für den Aufbau eines künstlerisch hochwertigen Werkkatalogs. Über 25 Mitschnitte von Frankfurter Aufführungen sind bislang erschienen. Da der Hessische Rundfunk kein Partner wurde, baute Loebe die hauseigene Tontechnik so exzellent aus, dass sie allen Digital-Ansprüchen genügt und Oehms in Relation zu den großen Medienkonzernen qualitativ als „die Edelboutique“ gilt. Gleichsam den „Ritterschlag“ bildete die Zustimmung des medienscheuen Kirill Petrenko zur Veröffentlichung seines „Palestrina“-Dirigats. Neben dieser Box liegen auf dem hauseigen orientierten Medientisch im Opernhaus: Korngolds „Tote Stadt“ mit Klaus Florian Vogt; Eva-Maria Westbroek ist „La Fanciulla del West“; Camilla Nylund glänzt als Ariadne und Lohengrin-Elsa – und wo sonst kann ein Haus Cestis „L’Orontea“, Martinůs „Julietta“, Leonis „L’Oracolo“, Reimanns „Medea“ oder Wagners Frühwerk „Feen“ – „Liebesverbot“ – „Rienzi“ in erstklassigen eigenen Aufnahmen präsentieren? Dazwischen liegen auch die CDs und DVDs mit dem „Frankfurter Ring“: kein wirtschaftlicher Aktivposten für Opernhaus und Oehms Classics – aber die Versäumnisse um den Frankfurter „Ring“ mit Gielen und Ruth Berghaus wollten Loebe und Oehms nicht wiederholen. Inzwischen hat der unter Klaus Heymann zu einem Global Player aufgestiegene Konzern Naxos auch Oehms Classics unter sein Dach genommen und mit Frankfurt eine DVD-Aufzeichnung pro Saison vereinbart.

So mischen sich derzeit im Gesamtangebot kommerzorientierte Mitschnitte mit künstlerischen Raritäten. Die in Spielplan-Statistiken auf den vorderen dreißig Plätzen rangierenden Opernwerke von „La Bohème“ bis „Zauberflöte“ liegen x-fach aufgezeichnet vor – doch erfreulicherweise auch von „schlicht historisierend“ bis „herausfordernd aktuell“ reizvoll interpretiert. Ähnliches gilt auch für Tanz-DVDs. „Dornröschen“ und erst recht „Schwanensee“ – da fällt die DVD-Wahl aus der Tanz-Welt zwischen Moskau und Kanada schwer. Da jedoch der künstlerische Personalaufwand speziell bei zeitgenössischen Tanz-Kreationen niedriger ist und keine opernüblichen Stargagen zu zahlen sind, erscheinen viele Werke wie Cherkaouis-Jalets „Babel 7.16“ (EuroArts), Mourad Merzoukis „Pixel“ (Naxos) oder Jan Kodets „Die kleine Meerjungfrau“ (EuroArts), alles Uraufführungen aus den letzten Jahren. Und auch der klassisch orientierte Ballettfreund kann sich zuhause herausfordern lassen: mit der „Lac“ betitelten Neuerzählung der „Schwanensee“-Handlung durch Jean-Christophe Maillot mit den Ballets De Monte-Carlo (Opus arte).

Manchmal erwirbt sich die DVD-Aufzeichnung dann sogar historische Verdienste. 2010 kam bei den Bregenzer Festspielen Mieczysław Weinbergs „Die Passagierin“ zur Uraufführung. Nur viermal war David Pountneys Ausgrabung dort zu erleben, und dann gastierte die Produktion dieses einzigartigen Musiktheaterwerkes über die NS-Verbrechen nur im Ausland. Nur das Badische Staatstheater Karlsruhe und abermals Frankfurt wagten bisher eine Inszenierung des in deutschen Spielplänen unverzichtbaren Werkes. Dafür veröffentlichte Arthaus die Bregenzer Aufführung, und soeben ist eine Inszenierung aus dem russischen Jekaterinburg erschienen (s. Rezension S. 46). Mediale Aufzeichnung im „Fall Weinberg“ also posthume Gerechtigkeit der Kunst gegenüber dem Schlachthaus der Geschichte, generell aber ein Ersatz des fehlenden Theatererlebnisses und oft eine unverzichtbare Ergänzung des engen Bühnenrepertoires.

Wolf-Dieter Peter

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