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Berichte

Seelenabgründe beim Ausflug

Streaming-Uraufführung der Oper „Schuberts Reise nach Atzenbrugg“ im Münchner Gärtnerplatztheater

„Die Wirklichkeit ist immer eine verpatzte Angelegenheit. Deshalb gibt’s doch die Kunst“, lässt Librettist Peter Turrini den Bühnen-Schubert über sein wenig attraktives Äußeres sagen. Das gilt so auch für sein ganzes Leben. Turrini, Komponistin Johanna Doderer sowie Regisseur Josef E. Köpplinger haben einen der historischen Tagesausflüge der „Schubert-Blasn“ ins Gartenlokal von Atzenbrugg zum Brennspiegel seines Lebens gemacht: Gaudi und Naturerlebnis; mehrfache Begegnung mit Hungernden und Krüppeln der Napoleonischen Kriege; kleine Bosheiten und Angst vor Metternichs Spitzeln; Schubert könnte Josepha von Weisborn seine heiße Liebe gestehen – und bringt kein Wort heraus: „Aus dem Herzen verlier ich nichts, da rennt nichts davon. Nicht die Trauer und nicht die Sehnsucht. Tag und Nacht sitzen‘s wie Bleikugeln in mir und bewegen sich nicht“, lässt Turrini ihn bekennen. Die Metzgertochter Dorothea Tumpel fragt nach, wieso er als „Gott der Musik“ traurig ist. Schubert: „Weil er ein Mensch ist.“

So gibt der fesche Franz von Tassié am Tagesende seine Verlobung mit Josepha bekannt – und in einer großen Solo-Schluss-szene mit der mehrfach wiederholten Frage „Geliebte, wo bist du?“ muss der fast gänzlich entblößte, zusammenbrechende Schubert erkennen, dass ihm aus dem (Bühnen-) Himmel nur eine überbordende Fülle an Notenblättern gewährt wird.

All das macht das Turrini-Libretto in knapp zwei Stunden gut einsichtig. Eine große Anklage Schuberts über seine eigene Quecksilber-Behandlung weitet Turrini zur gesellschaftskritischen Attacke auf das Kaiserhaus samt allen Arrivierten. Der Chor spielt als Kriegskrüppel, Bettlerinnen und tanzendes Landvolk mit (Chor: Felix Meybier; Choreografie: Karl Alfred Schreiner); eine Szene von Schuberts Traum als „Biedermeier-Superman“ und eine Streitszene mit dem Vater als Lehrer samt Kinderchor-Schülern wirken verzichtbar.

Johanna Doderer war sich der kompositorischen Herausforderung zwischen Schuberts Musik und Moderne bewusst. Im Frühjahr 2020 war das Werk zur Uraufführung fertig. Dann Lockdown, Umplanung, Verschiebung – bis sich das Staatstheater jetzt zu einer Präsentation unter Pandemie-Bedingungen entschloss: alles Bühnenpersonal dauergetestet, daher Spiel mit Körperkontakt möglich, und Umarbeitung auf kleinere Orchesterbesetzung. Dennoch das „Hereinfließen“ von kleinen Zitaten und Anklängen an Kammermusiken, Lieder und Tänze Schuberts reizvoll zu hören. Dann gelingen Doderer dramatische Ballungen mit dissonanten Gipfeln. Dazwischen fließt vieles dahin, mal kurz melodiös, mal mit kantigem Klavier auf orchestraler Fläche. Am Ende stellt sich nur ein: Nichts bleibt musikdramatisch wirklich hängen oder überwältigt, der „Held“ hat kein griffiges Thema, mit dem der Besucher nach Hause geht. Doch ein endgültiges Urteil wird wohl erst nach der „Fassung für großes Orchester“ zu fällen sein, womit die Leistungen von Dirigent Michael Brandstätter, Orchester und Chor nicht verkleinert werden sollen.

Ausstatter Rainer Sinell lässt aus düster waberndem Nebel einen großen Leiterwagen mit darauf fixiertem Kastenklavier auf die Drehbühne rollen. Deren vielfältige Schwenks nutzt Regisseur Köpplinger dann höchst gekonnt zu Fahrt, Jausen-Stopp, kleinen Rivalitäten in die durch wechselnde Hintergrundprojektionen beschworene Natur; Schubert steht bei zwei, drei Versuchen der geliebten Josepha verklemmt stumm gegenüber – und tobt sich dann nur am Klavier mal leidenschaftlich, mal verspielt aus. Am Schluss fahren alle im Gewitterdonner nach hinten davon. Auf wieder düster leerer Bühne beklagt der im Nebel existenziell einsame Künstler sein menschliches Scheitern und ahnt sein nahes Ende. Diesen großen Bogen gestaltet Tenor Daniel Prohaska in sehr guter Maske mit hochdifferenzierter Expression; seine emotionale Stummheit lässt einen mit der davor hilflos schließlich auf eine überreichte Blume hoffenden Josepha von Mária Celeng mitleiden. Malerfreund Kupelwieser scheitert mit mehrfachen „Kuppel“-Versuchen, was Mathias Hausmann in prächtigen Baritonphrasen gestaltet. Er sei stellvertretend für die sechs hübsch differenziert gezeichneten Freundinnen und Freunde genannt, die von Kunstpfeiferin Louise alias Andreja Zidaric mit blitzenden Koloraturen überstrahlt wurden. Ihnen allen nahm die Stream-Übertragung kaum etwas an Wirkung. Ob sich das Werk als Künstler-Porträt auf dem Musiktheater behaupten kann, wird wohl die reguläre Großfassung besser beantworten. Dem Schubert-Freund bleibt über die Uraufführung hinaus Trost bei Fritz Lehners überragendem TV-Sechsteiler „Mit meinen heißen Tränen“ – mit Udo Samel ein Monument der Schubert-Darstellung samt einer großen Atzenbrugg-Sequenz.

Wolf-Dieter Peter

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