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Hintergrund

Gut für Seele, Herz und Lunge

Kooperationsprojekt der Hamburgischen Staatsoper mit dem Universitätsklinikum

Kristina Stanek hat gleich beim ersten Zoom-Treffen mit Ivan Kirr gemerkt, was sein Problem war. Der 54-Jährige konnte nach seiner Corona-Infektion nicht mehr entspannt und tief einatmen. Lange Zeit hatte er beim Atmen Schmerzen gehabt, hinter dem Brustbein oder oberhalb der Nieren, und, ohne es zu merken, viel zu viel Muskelkraft aufgewandt. Dadurch konnte sich sein Zwerchfell beim Einatmen nicht absenken und der Luftstrom nicht natürlich einfließen.

Stanek kennt solche Zusammenhänge von Berufs wegen. Sie ist Mezzosopranistin und gehört zum Ensemble der Staatsoper Hamburg. Normalerweise findet ihr Berufsalltag im Rhythmus von Proben, Vorstellungen und Regenerationsphasen statt. Aber für Opernsänger gibt es seit mehr als einem Jahr keinen Alltag. Deshalb hat Stanek nicht lange gezögert, als sich der Intendant Georges Delnon per E-Mail ans Ensemble wandte und fragte, wer bereit wäre, sich ehrenamtlich an einem Kooperationsprojekt mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) zur Rehabilitation von Patienten zu beteiligen, die am Long-Covid-Syndrom leiden. „Der Leerlauf im Beruf schmerzt“, erzählt Stanek. „Die Vorstellung, etwas Sinnvolles zu tun und Menschen zu helfen, hat mich sofort gelockt.“

„Wir wollten in der Debatte darüber, was die Kulturinstitutionen in der Pandemie machen, ein Zeichen setzen“, sagt Intendant Delnon. „Natürlich versuchen wir, Kunst zu machen und neue Formate zu entwickeln, und diskutieren darüber, wie relevant Kunst in dieser Zeit ist. Aber es ist in der Not eben auch wichtig, sich helfend zu beteiligen.“

Für das Rehabilitationsprojekt haben sich je zehn Patienten und Sänger vier Wochen lang wöchentlich zu Online-Einzelcoachings getroffen. Hans Klose, Chefarzt der Pneumologie des UKE, und sein Team begleiten das Vorhaben wissenschaftlich: Vor dem ersten und nach dem letzten Coaching haben sie bei jedem Patienten die Lungenfunktion gemessen und fragen in einem standardisierten Fragebogen nach der Lebensqualität. Angesichts der niedrigen Zahl an Probanden bezeichnet Klose das Vorhaben nicht als wissenschaftliche Studie: „Es ist eher ein Pilotprojekt.“

Welche der für Long Covid typischen Folgen direkt auf die Viruserkrankung zurückzuführen und welche psychischer Natur sind, das sei nicht klar auseinanderzuhalten, sagt Klose. „Die Kranken hatten Angst, dass sie sterben, und die Bevölkerung hatte Angst, sich anzustecken. Die Patienten waren förmlich geächtet. Viele haben reaktive Depressionen oder auch Angststörungen entwickelt.“ Die Idee zu der Kooperation hatte sich ein UKE-Kollege von ihm bei der English National Opera abgeguckt. Das Londoner Opernhaus hatte sich Ende 2020 mit einer dortigen Klinik zu einer ähnlichen Unternehmung zusammengetan.

Und was kann eine Sängerin, was ein ausgebildeter Therapeut nicht kann? „Wir haben hervorragende Physiotherapeuten mit Spezialisierung auf Atemtechnik, die können das natürlich auch vermitteln. Aber es geht ja nicht nur um die schnöde medizinische Betreuung von Long-Covid-Patienten“, sagt der Pneumologe Hans Klose, und dann gerät er fast ins Schwärmen: „Dieses Projekt hat viel mehr Weite. Wir führen Kunst und Wissen zusammen. Es ist gut für Seele, Herz und Lunge.“

Der Patient Ivan Kirr musste zur klassischen Musik nicht erst bekehrt werden, er geht ohnehin gelegentlich in die Oper. „Ich war darauf fixiert, was wir da machen, kann ich das für mich nutzen? Und habe einfach mitgemacht.“ Hat etwa seine Lunge auf dem Laut „ffff“ ganz entleert und gelernt abzuwarten, bis sich der Impuls, wieder einzuatmen, von selbst einstellte – anstatt aus der Traumatisierung heraus aktiv einzuatmen. Abläufe, die bei einem gesunden Menschen unbewusst geschehen.

Kirrs Not war groß. Rund 40 Prozent seines Lungenvolumens hatte er durch die Infektion eingebüßt, aber das wollte er lange Zeit nicht wahrhaben. Irgendwann musste er sich eingestehen, dass er, der begeisterte Leistungssportler, sich andauernd erschöpft fühlte. Der Gedanke, vielleicht nie mehr der Alte zu sein, auch die Angst vor der Stigmatisierung quälten ihn so, dass er sich sofort anmeldete, als er von dem Projekt erfuhr.

Miteinander gesungen haben Stanek und Kirr nicht, sondern Basisarbeit geleistet. „Wenn ich mir die Videos anschaue, dann staune ich, was ich mich alles getraut habe“, sagt Kirr. „Aber Frau Stanek hat die Übungen so professionell übermittelt, dass ich keine Zeit hatte, darüber nachzudenken, ob das albern aussehen könnte. Einen besseren Trainer habe ich in meiner ganzen Sportlerlaufbahn nicht gehabt.“ Vom ersten Moment des Trainings an, als er eine andere Körperhaltung einnehmen sollte, spürte Kirr eine Veränderung. Der Erfolg verblüffte alle: den Patienten, die Sängerin, die Ärzte. Bis Ende des Trainingsblocks hat Kirr sich rund 60 Prozent des verlorenen Lungenvolumens wiedererkämpft, er lag zu dem Zeitpunkt also bei mehr als 80 Prozent des ursprünglichen Volumens. „Ich habe Lebensqualität wiedererlangt. Dafür mache ich gerne jeden Tag zehn Minuten meine Übungen. Ich werde erst aufhören, wenn ich 100 Prozent erreicht habe!“

Auch wenn die Pandemie vorbei ist, wird Long Covid noch andauern. Würde Stanek weitermachen? „Das wird sich zeigen. Der hilfsbereite Teil meines Herzens will das natürlich. Aber der Sängerberuf ist sehr anstrengend, mental und körperlich. Da wäre es vermessen zu sagen, ich kann das in den Pausen locker unterbringen.“

Die beteiligten Institutionen denken darüber nach, wie sich das kleine, von so viel Enthusiasmus getragene Projekt verstetigen ließe. Dabei geht es um Ressourcen, um Strukturen, ums Geld. Willkommen in der Normalität.

Verena Fischer-Zernin

 

 

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