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Berichte

Neuartige Gesamtkunstwerke

Digitales „TanzXperiment No. 4“ am Mainfranken Theater Würzburg

Ein Sportplatz, acht Tanzende. Sie bleiben im Trainingsmodus und wissen nicht so recht, wohin sie sich bewegen sollen. Sinnbild für eine Kunst, die – in den pandemischen Dauerschlaf verbannt – ständig auf neue Perspektiven hofft? Gedanken wabern wie Hintergrundraunen, formen sich zu Fragen und Ideen. Formen sich wie Musik zum Klangteppich. Was kann Kunst erreichen? Kann sie Menschen auch jetzt zusammenbringen?

Maya Tenzers Choreografie „Close to you“ bildet den Einstieg ins „TanzXperiment No. 4“. Die neue Expedition der Tanzcompagnie des Mainfranken Theaters Würzburg zeigt sehr persönliche Momente, die die jungen Tänzerinnen und Tänzer gerade auch in Zeiten geschlossener Theater durchleben. Tanz live auf der Bühne ist weiter nicht möglich. Stattdessen entstanden sechs Videos – und das Mainfranken Theater feierte mit deren Veröffentlichung eine erste digitale Premiere.

Dass digitales Theater ein Live-Event nicht ersetzen kann, steht ausser Frage. Doch jene digitale Kunst, die zugegeben aus der Not heraus entsteht, entwickelt sich zur eigenen, neuen Kunstform.

Dass digitales Theater ein Live-Event nicht ersetzen kann, steht ausser Frage. Doch jene digitale Kunst, die zugegeben aus der Not heraus entsteht, entwickelt sich zur eigenen, neuen Kunstform.

Ins Leben gerufen hatte das Würzburger Dreispartenhaus die Reihe „TanzXperiment“ im Jahr 2019, um den Mitgliedern des eigenen Ensembles Raum einzuräumen, dem Publikum eigene choreografische Arbeiten vorzustellen. Vor Theaterumbau und Pandemie geschah dies im Ambiente der Würzburger Kammerspiele. Die Videos mit einer Dauer zwischen vier und sieben Minuten entstanden nun an Drehorten in und um Würzburg wie der Augustinerkirche, im Theater Tanzspeicher, auf einem Parkdeck oder auch im Grünen als Soli, Duette und Gruppen-Choreografien. Sie bleiben als Video on Demand kostenfrei abrufbar auf der Webseite des Mainfranken Theaters.

Den intimsten Tanzmoment erlebt das Publikum in Marcel Casablanca Martinez‘ Solo „Bicho Palo“, zu deutsch bedeutet dies „Stabheuschrecke“. Den Spitznamen gaben ihm die anderen, gab sich der Künstler aus Barcelona einst selbst. Abwertend. Man spürt Bewegung für Bewegung, wie er intensive Einblicke in sein eigenes Leben gewährt. Wie er sich windet und aus einem Körper zu entkommen versucht, mit dem er sich nicht identifizieren will. Wie er sich doch findet und „Bicho Palo“ endlich selbst akzeptieren kann. Als Choreograf verzichtet er auf filmtechnische Raffinesse, bleibt ganz bei sich und den Ausdrucksmöglichkeiten des eigenen Körpers.

Was kann Kunst erreichen? Kann sie Menschen auch jetzt zusammenbringen?

Yester Mulens Garcias und Alba Valenciano López‘ Chorografie „Alba Retsey“ besticht als gesamtästhetisches Kunstwerk. Die beiden arbeiten mit eigener Musik, so meditativ wie schön. Sie erzählen im eigenen Text von Träumen und von einer Welt, die stirbt. Ihr Tanz ist kraftvoll, ist ausdrucksstark, ist modern und klassisch zugleich. Rennend, um sich und den Partner kreisend und in ausholenden Sprüngen tanzen sie in der Weite eines sakralen Raum. Sie kommen sich nah und berühren sich doch nicht. In Sachen Film spielen sie mit Vogelperspektiven, Farbkontrasten und schnellen, blitzlichtartigen Schnitten.

Welche neuen Chancen gefilmter Tanz bieten kann, verdeutlicht auch Tyrel Larsons Arbeit „Children of all“. Gedreht wurde im Wald. Die zwei Tänzerinnen Debora Di Biagi und Alba Valenciano López jagen zwischen Bäumen hin und her, scheinen in ruckartigen Armbewegungen gegen einen unsichtbaren Feind zu kämpfen, versuchen verzweifelt zu fliehen. Nervöse Kameraschwenke und Überbelichtungen lassen an den Horrorfilm „The Blair Witch Project“ denken und geben der ersten Choreografie-Sequenz Krimiartiges. Dann der harte Cut. Bäume geben nun in Zeitlupen Halt. Die Frauen finden sich selbst, finden ihre innere Ruhe wieder, in warmes Sonnenlicht gehüllt. Ein Ort, zwei Szenerien.

In „Depth over Distance“ spielt Venetia Lim im Gegensatz mit rasch wechselnden Drehorten – einer Dusche, schwarzem Raum, einem Tunnel, einem Parkdeck, blauem Himmel. Sie reiht winzige Momente wie eine Erinnerungsflut aneinander. Sie erschafft mit Maya Tenzer und Alba Valenciano López ein gut fünfminütiges Tanzvideo, das man mehrfach anschaut, um das Zusammenspiel von Bewegunsphrasen, Orten, filmtechnischen Effekten, Ton und Sprache zu erfassen. „You’re becoming a trail of memories“ hallen Worte. Erinnerungen, die bleiben und sich für den Zuschauer doch kaum greifen lassen.

Darf man über manchen Nebeneffekt der Pandemie schmunzeln? Corona-Humor kann ziemlich nerven. Wenn er aber so charmant transportiert wird wie in Alba Valenciano López‘ Choreografie „How would you dance your favourite movie?“ (Wie würdest Du Deinen Lieblingsfilm tanzen?), dann ja, und bitte noch viel mehr davon! Zu Georges Bizets berühmter Carmen-Arie „Habanera“ erzählen die Künstler tanzend von unsäglicher Langeweile. Die Schlafmaske über Monate auf den Augen macht auch Räkeln nicht wirklich wach. Kopfstand auf dem Bett und gleichzeitig auf dem Handy rumwischen? Geht. Füße ragen aus einer Badewanne und wippen gelangweilt. Und dann, plötzlich, verwandelt sich Dauermonotonie in Freiheit und pure Lebenslust. In Wiese, Blumen und Ausgelassenheit. Kunst darf wieder gelebt, darf errannt, ertanzt und laut herausgesungen werden. Alba Valenciano López hält zusammen mit der Tanzcompagnie der Dauermonotonie eines Jahres augenzwinkernd und wie einen trotzigen Protest Freiheit entgegen im getanzten Lieblingsfilm.

Dass digitales Theater ein Live-Event nicht ersetzen kann, steht außer Frage. Aber das soll es auch nicht. Doch jene digitale Kunst, die zugegeben aus der Not heraus entsteht, entwickelt sich zur eigenen, neuen Kunstform. Kameraperspektiven, Blenden, Aufnahmefrequenzen, Schnitt und Spezialeffekte ermöglichen ein anderes, neues Erzählen. Bewegung wird im „TanzXperiment No. 4“ auf eine andere Stufe gehoben, Tanz wird Teil neuer Gesamtkunstwerke. Gut, dass nach mehr als einem Jahr Pandemie auch das Mainfranken Theater Würzburg die Chancen des Mediums Film für sich entdeckt, um das Publikum weiter zu erreichen. Man wünscht sich, dass davon auch in postpandemischer Zeit etwas bleibt.

Michaela Schneider

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