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Berichte

Schneegestöber

Neues Handlungsballett »Der Schneesturm« des Bayerischen Staatsballetts

Erstaun-erfreulich: nach allzu vielen vertanzten Psycho- und Identitätssuchen, nach modern-gedancten Innenschauen ein abendfüllendes Handlungsballett, das eine verfolgbare Geschichte erzählt – und choreografisch beeindruckt. Hauschoreograf Andrey Kaydanovskiy griff auf einen russischen Klassiker zurück, Alexander Puschkins Erzählung „Der Schneesturm“ von 1831: Marja, die sich mit ihrer Schneekugel sehnsüchtig aus allem erstarrten Standesdünkel fortträumende Tochter aus begütertem Haus, verliebt sich in den armen Vladimir; beide fliehen zu einer heimlichen Hochzeit. Die Folge eines Schneesturms: Vladimir verspätet sich. Im Unwetter traut der Pope Marja mit dem in der Kirche stehenden jungen Mann im langen, uniform-ähnlichen Mantel. Vladimir zieht frustriert in den Krieg gegen Napoleon und findet in einem Schneesturm den Tod. Marja kehrt zurück zu den Eltern. Jahre später erobert der Husar Burmin das Herz der jungen, inzwischen verarmten Frau – mit der er längst verheiratet ist: Es stellt sich heraus, dass sie einander im Tohuwabohu des damaligen Schneegestöbers fälschlicherweise angetraut wurden.

Ensemble im „Schneesturm“. Foto: Katja Lotter

Ensemble im „Schneesturm“. Foto: Katja Lotter

Dafür hat Karoline Hogl im dunklen, leeren Bühnenraum mit Leuchtstäben die Tiefe des Ballsaals und den schneesturm-umtobten Kirchenumriss geschaffen; ein Tanzboden ergibt hochgeklappt auch die Hausfassade der verarmten Marja. All das lässt Raum: anfangs für den steifen Gesellschaftstanz, später für das jugendliche Tanzvergnügen, in dem Marja und Husar Burmin sich erneut finden, dann für die schicksalhaften Schneestürme in schwarzer Tiefe, in dem sechs total verhüllte weiße Geister in tanzendem Wirbel durch‘s Seitenlicht Kunstschnee so streuen, dass alle Realität unsichtbar wird. Für all das hat Choreograf Kaydanovskiy eine differenzierte Körpersprache gefunden. Da sitzen Marjas Eltern zur „Standesfotografie“ erstarrt. Da wird das kurze, sturmumtoste Kirchenritual zur Groteske überzeichnet. Da tanzt die Jugend (vielleicht ein bisschen zu) nahe an „West Side Story“. Da werden Marjas anfängliche Sehnsucht über den Wirbel in ihrer Schneekugel hinaus, dann ihre Verzweiflung über das Verschwinden Vladimirs körperlich sichtbar, erst recht, als seine Soldatenmütze als Todesbotschaft überbracht wird. Vor allem aber kann Kaydanovskiy Pas de deux erfinden: Da sind Erstaunen, Entzücken, spielerische Verweigerung und erste Hingabe nachzuvollziehen, weil Ksenia Ryzhkovas Marja und Jonah Cooks Vladimir das mal raumgreifend tollend, mal in eng verschlungener Nähe sehen machen. Marjas zögerliche Liebe zu Jinhao Zhangs Burmin lässt Kaydanovskiy in anderen Formen und Figuren der Annäherung, dann in einer heftigen Ohrfeige Marjas und in ihrer allmählichen Hingabe nachvollziehbar werden. Da ist sein Gespür für unterschiedliche Tänzerpersönlichkeiten erkennbar, vor allem aber sein Erfindungsreichtum für Hebungen, Verschlingungen oder Drehungen. All das wirkt auch tanzerzählerisch dicht, weil Komponist Lorenz Dangel seine Erfahrungen aus der Filmmusik einbringen kann: Seine Partitur für großes Orchester lässt den Schwung der großen Ballszene tönen, macht punkt- und schrittgenau Erschrecken und Zaudern hörbar und scheut sich nicht, die Fortführung eines Tschaikowsky-Klangrausches für den jugendlichen Liebesrausch hochschäumen zu lassen. All das dirigierte Gavin Sutherland trotz vergrößerten Abstands zur Bühne animierend. Die zwei Akte wirkten auch so dicht, weil da Choreograf und Komponist nachvollziehbar Hand in Hand gearbeitet haben. Herausgekommen ist ein Handlungsballett, das, jenseits aller Klassiker im Repertoire des Bayerischen Staatsballetts, die Reihe von Tanzerzählungen bereichert – da sprechen Bewegung und Gestik, da gibt es das pantomimische Detail und den ganzen Körper, die alle menschlichen Regungen sichtbar machen.

Wolf-Dieter Peter

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