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Berichte

Grundprobleme unserer Zeit

»Intolleranza 2021« in Wuppertal

„Lassen Sie sich bezaubern.“ Der Satz, mit dem der Wuppertaler OB Uwe Schneidewind seine einführenden Worte beschloss, mutete seltsam aus der Zeit gefallen an und, ja, auch ein bisschen deplatziert. Schließlich standen im Theater Wuppertal nicht etwa eine seichte Operette oder leicht bekömmliche Standardkost auf dem Programm, sondern mit Luigi Nonos Opernerstling „Intolleranza“ knallhartes Polittheater. Und auch die Corona-Krise tat ihr Übriges dazu, dieser ersten Aufführung nach dem harten Lockdown an dem bergischen Haus, ihren Stempel aufzudrücken. Sie fand nämlich ohne Publikum und nur vor einigen Journalisten statt. In Wuppertal hatte man angesichts der planerischen Unwägbarkeiten für klare Verhältnisse optiert und sich grundsätzlich dafür entschieden, in dieser Spielzeit gar nicht mehr vor Publikum zu spielen. Und so hatte Nonos Oper dann einige Zeit nach der Live-Aufzeichnung noch einmal im Netz als Stream Premiere.

Foto: Bettina Stoeß

Foto: Bettina Stoeß

Das zweifelsohne auch hier eindrucksvolle Erlebnis wird aber ein anderes als live vor Ort gewesen sein, denn im Wuppertaler Theater hat man Nonos Raumklang-Konzept in den Mittelpunkt gestellt. Das Orchester ist in vier Gruppen aufgeteilt: im Graben sitzen Streicher und Harfen, die Holzbläser sind im Rang über und hinter dem Publikum, Blech und Schlagzeug befinden sich hinten im oberen Bühnenturm. Auch der Chor ist zumeist zweigeteilt auf den Rängen oder links und rechts neben einem großen Container platziert (Bühne: Dieter Richter), in und vor dem sich der Großteil der Handlung abspielt. Ohne technische Hilfsmittel ist das nicht praktikabel, und so haben Dirigent Johannes Harneit und sein Subdirigent Stefan Schreiber Schwerstarbeit zu leisten, um alle Musiker untereinander und mit dem Bühnengeschehen zu synchronisieren.

Das gelingt zumeist ausgezeichnet, zumal auch die Besetzung in Wuppertal keine Wünsche offen lässt. Markus Sung-Keun Park als Migrant kann seine ausgesprochen strahlkräftige aber sehr expressive Tenorstimme voll ausfahren, Solen Mainguené als seine Gefährtin steht ihm in Hinblick auf stimmliche Expressivität und darstellerische Überzeugungskraft in nichts nach. Auch das Ensemble der Oper und hier vor allem der von Markus Baisch ausgezeichnet einstudierte Opernchor erwecken Nonos atonale und auch heute noch avangardistische Musik mit eindrucksvoller Intensität zum Leben. Verstärkt wird der Chor durch das Chorwerk Ruhr (Einstudierung: Sebastian Breuing), das aus Gründen des Infektionsschutzes jedoch nur vom Band eingespielt werden kann. Das Ergebnis ist ein multidimensionaler Raumklang, den man natürlich am besten vor Ort genießen kann – vorausgesetzt man sitzt am richtigen Platz.

Seine Inszenierung hat Dietrich W. Hilsdorf gegenüber dem Original bewusst aktualisiert. „Intolleranza 2021“ nennt man die Aufführung in Wuppertal – in Anlehnung an den Originaltitel „Intolleranza 1960“. In Wuppertal bekommt dieser Aktualisierungsgedanke durch den 2020 gefeierten 200. Geburtstag von Friedrich Engels, für dessen Feierlichkeiten die Aufführung eigentlich eingeplant war, eine zusätzliche Relevanz. Er wird konsequent durchgezogen ohne ihn mit zu vielen thematisch verengenden Details zu überfrachten. Das an einen Schlachthof erinnernde Containerambiente, folternde Polizisten oder die prekären Lebensbedingungen bleiben so auf andere Verhältnisse übertragbar. Sie spiegeln die Grundprobleme unserer Zeit: Vertreibung, Gewalt, Folter, Migration, prekäre Existenzen.

Insgesamt geht diese Rechnung auf, nicht nur weil ein Stück wie Intolleranza auch mehr als 60 Jahre nach seiner Uraufführung in Venedig musikalisch wie inhaltlich hochaktuell ist. Hilsdorf findet beklemmende Bilder für Verzweiflung, Folter und Ungerechtigkeit. Er zeigt, dass Nonos politisch engagiertes Theater nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat, auch wenn das gestelzte Libretto mit seinen gedrechselten und hochintellektuellen Phrasen seltsam aus der Zeit gefallen anmutet – wie die einführenden Worte des OBs. Aber letztendlich trifft dieses Stück ins Mark. „Und ihr? Seid ihr taub?“ heißt es an einer Stelle. Sind wir das? Oder sind wir doch nur das „Herdenvieh im Stall der Schande“, das zu Beginn der Aufführung in einer schier endlosen Reihe quer über die Bühne marschiert? Wie dem auch sei, „Intolleranza“ gerät in Wuppertal zu einem wichtigen Signal: dass es weitergeht, wenn auch pandemiebedingt unter anderen Vorzeichen, und dass die Grundprobleme unserer Gesellschaft nach wie vor ungelöst sind.

Guido Krawinkel

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