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Ganz Große Oper!

Revival der Opern Giacomo Meyerbeers

Nach über hundert Jahren überwältigen die Großen Opern von Giacomo Meyerbeer (1791-1864) und Jacques Fromental Halévy endlich wieder das Publikum. Als die Deutsche Oper Berlin 1987 „Die Hugenotten“ herausbrachte, waren diese auf den Spielplänen und Tonträgern noch ein Exotikum. Regisseur John Dew verortete Eugène Scribes Libretto über das Massaker der Pariser Bartholomäusnacht 1572 Richtung Berliner Gegenwart im Schatten der Mauer. Damals strich man den ganzen dritten Akt des blutigen Konflikts der Konfessionen, sang auf deutsch statt in der französischen Originalsprache und schaffte das Stück inklusive Pause in zackigen drei Stunden. Noch immer lebt die nach heutigem Verständnis von historisch informierter Aufführungspraxis anfechtbare Produktion in der Erinnerung. Stefan Soltesz am Pult war damals glückhafter als 2019 an der Semperoper in Peter Konwitschnys eiskalter und harter Realisierung. Viele Herausforderungen durch Meyerbeer stellen sich unabhängig von der Größe eines Opernhauses. Die dem romantischen Geschichtsroman analogen und bis in die Historienfilme Hollywoods weiterwirkenden Dramaturgien seiner vier Hauptwerke sind durch ihre exzessive Synthese von Massenszenen, theatralen Verführungsstrategien und Sinnlichkeit äußerst anspruchsvoll. Umso bedauerlicher ist, dass der nahende Lockdown Anfang März 2020 das Meyerbeer-Festival der Deutschen Oper Berlin mit Wiederaufnahmen von „Les Huguenots“ (Regie: David Alden, 2016), „Le Prophète“ (Regie: Olivier Py, 2017) und „Vasco da Gama (L‘Africaine)“ (Regie: Vera Nemirova, 2015) überschattete. Als weltweit erstes Opernhaus seit Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die Deutsche Oper damit gleichzeitig drei Meyerbeer-Opern im Repertoire: drei in ambitionierter Präzision erarbeitete Mehr-als-Vierstunden-Abende mit großen Chören und Tänzen! Dieser Zyklus unter der musikalischen Leitung von Michele Mariotti und Enrique Mazzola bewahrheitete das im Herbst 2014 beim Symposium „Europa war sein Bayreuth“ gegebene Versprechen. Nach der seit 1900 verebbten Erfolgsgeschichte beweisen Meyerbeers exzeptionelle Opern über die Absicht einer Wiedergutmachung hinaus heute eine verjüngte thematische Relevanz. Richard Wagners Ablehnung und die dadurch im Nationalsozialismus beflügelte Verbannung Meyerbeers aus dem Repertoire wird zunehmend durch die Forschung, die kritischen Editionen des Ricordi-Verlags und steigende Vorstellungszahlen revidiert. In Berlin inauguriert man derzeit die Gründung einer Meyerbeer-Gesellschaft. Jetzt müsste nur noch das Tarifrecht der Opernchöre erweitert werden. Nach diesem sind für Wag-ner-Aufführungen Zusatzhonorierungen und Probenbegrenzungen vorgesehen, nicht aber für die sogar in gekürzten Aufführungen vergleichbaren Höchstbeanspruchungen durch Meyerbeer. Jedes der vier Hauptwerke Meyerbeers bedeutet für Chöre einen Kraftakt wie eine Doppelvorstellung von „Der fliegende Holländer“.

Sind Aufführungen in annähernder Originallänge tatsächlich sinnvoll? Sofort nach Meyerbeers Tod 1864 begann an den Bühnen die theatrale Vergröberung seiner Opern. Dabei sind Meyerbeers Akt-Architekturen so subtil wie jene Wagners. Ähnlich wie Rossinis erstmals vollständiger „Guillaume Tell“ in Pesaro 1996 erschloss die Erstaufführung von „Vasco da Gama (L‘Africaine)“ an der Oper Chemnitz 2013 unter Frank Beermann ein nur aus entstellenden Fassungen bekanntes Werk und somit fast vergessenes Opern-Atlantis. Es ging auch um die Rehabilitierung eines Komponisten, der sich zu Sängern und Aufführungsbedingungen immer als kooperativ erwiesen hatte.

„Les Huguenots“ an der Deutschen Oper Berlin mit Derek Welton als Graf de Saint-Bris und dem Chor der Deutschen Oper. Foto: Bettina Stöß

„Les Huguenots“ an der Deutschen Oper Berlin mit Derek Welton als Graf de Saint-Bris und dem Chor der Deutschen Oper. Foto: Bettina Stöß

Zentraler Gedanke der Meyerbeer-Renaissance ist vor allem eine kulturgeschichtlich stichhaltige und ernstzunehmende Würdigung, welche bis lange nach 1945 von verschiedenen Schichtungen antisemitischer Vorurteile und aus diesen bedingten Zuschreibungen belastet worden war. Arnold Jacobshagen resümierte beim Symposium 2014: „Für die Meyerbeer-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die Gegenwart hinein sind latent judenfeindliche Reflexe in gar nicht einmal so marginalen Teilen der deutschen Musikhistoriographie gleichwohl weiterhin präsent. Das zeigt sich im Fortschreiben von allgegenwärtigen Rezeptionshaltungen und ästhetischen Werturteilen, ohne dass heutigen Autoren die Abhängigkeit von Denktraditionen des 19. Jahrhunderts im Einzelnen bewusst sein dürfte. Der beste Weg, solchen Tendenzen zu begegnen, besteht zweifellos darin, im Kontext der gegenwärtigen pluralistischen Musikkulturen mit erstklassigen Aufführungen auf der Grundlage der neuen Edition das heutige Publikum für Meyerbeer unvoreingenommen zu begeistern.“

Die Befreiung der Rezeption Meyerbeers insbesondere vom Negativeinfluss der hypertrophen Hasstiraden Wagners und dessen Schmähschrift „Das Judentum in der Musik“ lässt sich nicht nur, aber auch durch Feinheit der Einstudierung und Spieldauer demonstrieren. Diese geben Meyerbeers Opern das gegenüber Wagner angemessene Gewicht und bestätigen eine wertschätzende Aufmerksamkeit der Verantwortlichen. Für die Grand Opéra wie für das musikalische Unterhaltungstheater vor 1933 gilt gleichermaßen, dass der gegen die Autoren gerichtete Antisemitismus das Verschwinden von deren Werken bedingte und diese überdies aufgrund der führenden musiksoziologischen Theoriebildung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts aus dem Aufmerksamkeitsfokus rutschten. Eine langsame Rehabilitierung der französischen Grand Opéra begann in Deutschland erst in den 1980er-Jahren, während in Italien, Großbritannien und in den USA vereinzelt Meyerbeer-Produktionen stattfanden. Eine Gemeinsamkeit von Meyerbeer- und Wagner-Opern ist allerdings nicht zu leugnen: Das Problem einer angemessenen Besetzung der zentralen Tenor-Partien.

Bei dem literarischen Realismus nahestehenden Opern wie „Eugen Onegin“ und „La Bohème“ versteht man die Unterbrechung der dramatischen Stringenz als originäres Konstruktionselement. Bei Meyerbeer dagegen kritisierte man diese als dramaturgische Schwäche. Dabei steckt hier – vor allem von John Dew und Tobias Kratzer im Karlsruher „Le Prophète“ (2015) ausgekostet – der enorme Reiz seiner Opern. Jeremy Bines, der als Chordirektor der Deutschen Oper Berlin neben der „Prophète“-Neuproduktion die Wiederaufnahmen von „Vasco da Gama“ und „Les Huguenots“ leitete, betrachtet Meyerbeers polyglotte Dramaturgie auf Belcanto-Basis als eigenwillige Höchstleistung.

„Es kommt vor allem auf die richtigen Striche an. Durch die Ricordi-Editionen haben wir endlich die richtigen Voraussetzungen dazu“, sagt Berthold Warnecke, Operndirektor des Mainfranken Theaters Würzburg. Zu Warneckes künstlerischer Biographie gehören „Robert le diable“ am Theater Erfurt (Regie: Jean-Louis Grinda, 2011) und vor allem „Les Huguenots“ (Regie: Tomo Sugao, 2015) als Beginn der mit ironischer Definitionsschärfe betitelten Reihe „Die Grand Opéra“ am Mainfranken Theater. Diese schloss Verdis „Les Vêpres Siciliennes“ und Wagners „Götterdämmerung“ ein, weiterdenkend zu John Adams‘ „Nixon in China“ als Grand-Opéra-Derivat des späten 20. Jahrhunderts. Warnecke hält die Werke mit Ausnahme der heiklen Tenor-Partien an mittleren Opernhäusern für gut besetzbar. Mit einer reinen Spieldauer von 3 Stunden 15 Minuten (mit Pausen 4 Stunden) gingen die Würzburger „Huguenots“ in fünf Monaten bis Februar 2016 trotz vorverlegter Anfangszeit auch an Werktagen durch alle Abo-Serien und blieben in der Platzausnutzung hinter bekannteren Stücken kaum zurück.

„Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin mit Gregory Kunde als Jean de Leyde und dem Chor der Deutschen Oper. Foto: Bettina Stöß

„Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin mit Gregory Kunde als Jean de Leyde und dem Chor der Deutschen Oper. Foto: Bettina Stöß

Von einer großen fünfaktigen Meyerbeer-Oper mit nur einer Pause hält Warnecke wenig. „Strichfassungen dürfen die Substanz nicht beschädigen. Meyerbeers Tableaus brauchen zur vollen Wirkung ihre ausgedehnte Entwicklungsdauer mit seinen klugen Zäsuren zwischen den dadurch erst in ihrer vollen Stärke überwältigenden Reizmomenten. Wie bei Wagner sind zwei Pausen auch deshalb wichtig, weil Meyerbeers Mittelakte ein eigener Kosmos seiner Werkgefüge sind.“

Das lernte Warnecke in Erfurt mit „Robert le diable“, bei dem die ersten drei Akte zusammen etwa 100 (von original 140) Minuten bis zur einzigen Pause beanspruchten. Eine andere Ursache für den Erfurter „Durchhänger“ war, dass der Sog des gothisch-gruseligen dritten Aktes in das Nonnen-Bacchanal, eine der spektakulärsten Opernszenen des 19. Jahrhunderts, durchbrochen wurde. Dieses hatte man als isoliertes „Studio-Tanzstück“ aus der großformatigen szenischen Klimax geschnitten. Die Erwartung von musikalischer Steigerung und räumlicher beziehungsweise personeller Vergrößerung trat demzufolge nicht ein.

Ob allerdings die Massenszenen „nur“ durch den Hauschor, mit Extrachor beziehungsweise mit Ballett, Bewegungsensemble oder Statisterie ausgeführt werden, scheint zweitrangig, sofern Regie und Choreografie schlüssige und zwingende Lösungen finden. In Würzburg kam es bei „Les Huguenots“ mit knapp über 20 Mitgliedern des Opernchores, über 40 Extra-Chorsängern und nur zwei Komparsen zu eindrucksvollen Wirkungen. David Alden teilte an der Deutschen Oper Berlin strikt die Aufgaben zwischen Chor und dem Opernballett, beziehungsweise der Statisterie, womit er die an einem großen Repertoiretheater notwendige Arbeitsteilung berücksichtigte. Wenn Meyerbeer in absehbarer Zeit den gleichen tarifrechtlichen Status erhalten könnte wie Wagner, wäre es künstlerisch fahrlässig, auf das Potenzial des wichtigsten Bühnenkomponisten zwischen Rossini und Wagner zu verzichten. Denn in vielen Choropern wie „Aida“, „Don Carlos“, in dessen Partitur mehrere Reflexe auf „Robert le diable“ unverkennbar sind, oder Ponchiellis „La Gioconda“ verringert sich die Präsenz der singenden Kollektive im Verlauf der auf die Einzelschicksale zugespitzten Handlungen. Dagegen bleibt das Kräftemessen zwischen den manipulierten Massen und den in tödliche Konflikte getriebenen Individuen in „Les Huguenots“ und „Le Prophète“ bis zum Schluss explosiv. Auch für Chor und Tanz sind Meyerbeers Grand Opéras deshalb eine Erfolgsgarantie wie „Nabucco“ oder Gounods „Faust“. Der herausfordernde und anstrengende Einsatz wird mit hoher Ovationsrendite gratifiziert.

Roland H. Dippel

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