Zum ersten Mal überhaupt seit der Uraufführung beim Steirischen Herbst in Graz 1987 hat das Staatstheater Darmstadt in Kooperation mit den Wiener Festwochen Friedrich Cerhas zweite Oper „Der Rattenfänger“ auf die Bühne gebracht. Vor der Aufführung konnte man sich fragen, ob der Komponist mit dem Rückgriff auf Carl Zuckmayers fast vergessenes Schauspiel von 1975 nicht einem überholten Konzept von Literaturoper gefolgt ist, und zudem an der ästhetischen und literarischen Qualität der Vorlage zweifeln. Doch der suggestive Einstieg auf der Darmstädter Bühne drängt die Bedenken zurück. Was sich dann in beinahe dreieinhalb Stunden auf Hartmut Schörghofers Bühne, in Operndirektor Friedrich Meyer-Oertels Inszenierung und unter GMD Stefan Blunier am Pult des Darmstädter Orchesters entfaltet, erweist sich als ein einziges großes Plädoyer für die Qualität und die Bedeutung des Werkes. Und man erlebt den Glücksfall, dass auf der Bühne alle Mitwirkenden sängerisch und darstellerisch gleichermaßen überzeugen. Schon in seinem Kommentar zur Uraufführung hat Cerha die „Problemvernetzung“ als die eigentliche Qualität seiner Vorlage benannt; und mit Hingabe entfaltet er auch musikalisch die komplexe Handlung: Erst allmählich erkennt die Titelfigur (beeindruckend: John Pierce) die verfahrene Situation in der mittelalterlichen Stadt. Sie ist gespalten in Arm und Reich, untere und obere Stadt. Die Elenden sind heruntergekommen und brutalisiert, die Wohlhabenden gierig und korrupt. Der Stadtregent (Thomas J. Mayer) duldet die bedrohlich wachsende Rattenplage, um seine Getreidespekulationen zu fördern und einen Anlass zum Losschlagen gegen die erwarteten Unruhen zu bekommen. Die Jugend der Stadt sieht keine Perspektive; in ihren wenigen freien Stunden treffen sich die jungen Leute im Stadtgraben, wo sie herumlungern, räsonieren, tanzen, geheime Rauschmittel probieren und ihre Aggressionen an Schwächeren abreagieren. Auf die Kirche als moralische Instanz ist kein Verlass. Dem aufrechten weisen Stadtdekan (Horst Schäfer) steht der verschlagene mächtige Stiftspropst (Friedemann Kunder) gegenüber: Warum soll man nicht die aufsässige Bevölkerung als Arbeitssklaven in den Osten verkaufen? Zwei Figuren bewegen sich zwischen den beiden Lagern: der obskure, intrigante Hostienbäcker (Wojciech Halicki), Zuträger des Stadtregenten, und der Kleine Henker (Hans Christoph Begemann), ein geradliniger kleiner Beamter, der ohne viel Nachdenken seine schmutzige Pflicht tut. Zwei Frauen hat es der exotisch wirkende Fremdling angetan: Rikke (Morenike Fadayomi), der Pflegetochter des Kleinen Henkers, auf deren Zuneigung er sich allmählich einlässt, und Divana (Jennifer Barrette Arnold), der schönen Frau des Stadtregenten, deren Machtspiele und innere Kälte er rasch durchschaut. Erst durch diese Begegnungen wird er sich der Macht seiner Musik und seiner Ausstrahlung bewusst, und es gelingt ihm, die Ratten in die Weser zu locken. Für Divana muss er privat zum Tanz aufspielen; als sie sich im Tanzrausch zu Tode getanzt hat, scheitert der geplante Aufstand gegen die betrügerische Stadtregierung. Die alarmierten Landsknechte schlagen die Rebellion brutal nieder, Rikke kommt zu Tode und nur die Selbstmorddrohung der beiden Kinder des Stadtregenten (Diana Tomsche-Beikircher und Marian Olszewski) rettet den Rattenfänger vor dem Galgen. Am Ende nötigen ihn die überlebenden Jugendlichen, sie aus Hameln weg in eine bessere Zukunft zu führen. Was Zuckmayer Anfang der 1970er-Jahre zu Papier brachte, erscheint heute als illusionsloser Blick auf ein ziemlich verworrenes und verkorkstes 20. Jahrhundert. Man spürt in diesem Text zugleich das Nachbeben vergangener und das Wetterleuchten gegenwärtiger (und vielleicht zukünftiger) Katastrophen. Zudem ist „Der Rattenfänger“ ein Stück, das das ganze Spektrum der Wirkungen von Musik vorführt. Sie betört, verführt, mobilisiert, berauscht und tröstet, spricht Gefühle aus, charakterisiert Figuren und Situationen, setzt inhaltliche Akzente und malt auch, was man nicht sehen kann: Die Ratten in Winkeln und Löchern. Cerha hat es nicht nur geschafft, Alban Bergs „Lulu“ abzuschließen; er ist auch mit Erfolg auf dem Weg weitergegangen, den Berg mit seinen beiden Opern gewiesen hat.
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