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Berichte
DDR-Vergangenheit und mitreissender Puls
Uraufführung von Ludger Vollmers Choroper „Rummelplatz“ in der Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz und Tanz-Parcours „Odyssee in C“
„Rummelplatz“ wurde ein grandioser Uraufführungserfolg. Niemand hätte gedacht, dass für den Opernauftrag der Theater Chemnitz zum Jahr der Kulturhauptstadt Europas 2025 drei Zusatzvorstellungen angesetzt werden mussten. Das Sujet über den bereits 1946 unter sowjetischer Administration im Erzgebirge eingeleiteten Uranabbau für sowjetische Nuklearwaffen gehört zur sächsischen Regionalgeschichte. Die Wismut AG hinterließ in der DDR und bis zur Abwicklung in der Nachwendezeit wirtschaftliche Risse und moralische Narben.

Ludger Vollmer, „Rummelplatz“, mit Marlen Bieber (Ingrid), Jaco Venter (Hermann Fischer) und dem Opernchor der Theater Chemnitz. Foto: Nasser Hashemi
Das Romanfragment „Rummelplatz“ des in Chemnitz geborenen Werner Bräunig (1934–1976), eines der theoretischen Pioniere des Bitterfelder Wegs, wurde bei seinem posthumen Erscheinen 2007 sofort als großartige Entdeckung gefeiert. Der mit nur 42 Jahren verstorbene Autor begann den Roman 1959, brach die Arbeit aber 1966 nach massiver Kritik durch SED-Funktionäre und von Erich Honecker ab.
Jenny Erpenbeck dachte Bräunigs von der Gründung der DDR 1949 bis zum niedergeschlagenen Arbeiteraufstand 1953 reichende Romanhandlung in ihrem Textbuch über die folgenden Jahrzehnte weiter – bis zur Wiedervereinigung, die so manche Hoffnungen trübte und bei vielen ein Gefühl der inneren Leere hinterließ. Im Uranbergwerk Schlema kommen Menschen aus den unterschiedlichsten Sphären zusammen. Zwischen dem strafversetzten Bagatellkriminellen Peter Loose und dem Akademikersohn Christian Kleinschmidt, für den der Arbeitsdienst die Voraussetzung zum Universitätsstudium ist, entwickeln sich Kumpeltum und Verbundenheit. Liebschaften entstehen und zerbrechen bei der riskanten und gesundheitlich lebensbedrohenden, allerdings gut honorierten Arbeit. Streitigkeiten zwischen Staatsorganen und Werktätigen werden gewaltsam beendet. Alles steigert sich und verebbt in intensiven 125 Minuten: tödliche Unfälle in den Schächten, legale und willkürliche Beschränkungen durch ein Unrechtssystem, exzessive Vergnügungen eines Soziotops am Rande der Gesellschaft. An Ruhepunkten fragen die Figuren nach dem Sinn dessen, was sie da im Kalten Krieg als Beitrag zum Weltfrieden produzieren. Nur in einer auf dem Rummelplatz hoch über den Köpfen kurz innehaltenden Überschlagschaukel ist Peter mit sich eins und schwebt über den Miseren des Alltags.
Ludger Vollmer setzte eine sehr sensible, geschmeidige und überlegte Vertonung über ein weiteres originelles Sujet seiner beachtlichen Opernreihe. Dazu nutzte er Großformen und Mittel des älteren Musiktheaters, mit denen er Erpenbecks kleingliedriges Kaleidoskop prägnanter Handlungsschlaglichter in einen Strom sehr gestischen Komponierens legte. Jede Szene hat ein spezifisches Kolorit. So gelingt tatsächlich ein „musikalisches Volksdrama“ mit Einzelfiguren, die das kollektive Schicksal packend verdeutlichen.
Ludger Vollmers dicht instrumentierte, für die Stimmen effektvolle Musik und Volker Thieles schwarzes Bühnenkasten-Loch mit bronzenen Spuren an den Wänden haben eines gemeinsam: Sie sind von dunkler und suggestiver Leuchtkraft. Zitate der Moden im DDR-Alltag finden sich ganz sparsam in den Kostümen und deutlicher in den Uniformen von Gabriele Rupprecht. Es geht aber nicht um Imitation, realistische DDR-Revue oder Schuldzuweisungen, sondern um Allgemeingültiges. Die Disko-Szene, die nach hanebüchenen Verboten mit der Verhaftung und Inhaftierung Peters endet, drängt tief in die frühen 1980er Jahre.
Frank Hilbrich schweißt in seiner sowohl brennspiegelartigen wie verallgemeinernden Inszenierung den Chor zu einem flackernden und düster resignierenden Kollektiv zusammen. Raue, böse und gute Momente versetzt der designierte Intendant des Musiktheaters im Revier Gelsenkirchen in monumentale Spannung und macht sie damit beeindruckender, als sie unter mimischem Überdruck wirken würden. Vor einem Brand mit mehreren Todesopfern kommt es sogar zu einem romantisch suggestiven Untertage-Tableau. Die untergegangene DDR ersteht im verminten Spannungsfeld zwischen einer verlorenen Vergangenheit und abrupten Wechselstößen aus Solidarität, Spaltung und Gewalt von oben. Instrumentale Begleitformeln von suggestivem und mysteriösem Wohlklang, gleißende Akzente und Harmonien begleiten das kollektive Schicksal.
Die Zerrissenheit zwischen hohen sozialistischen Zielen und Repressionen im Alltag, die Hilbrich und die Ausstattung mit Mut zur Monumentalität überhöhen, gerät zur großen Leistungsschau für den hervorragenden Opernchor der Theater Chemnitz unter Leitung von Stefan Bilz. Das Kollektiv ist fast immer auf der Bühne und auch im figurativen Hintergrund in Bewegung. Der Kinder- und Jugendchor (Einstudierung Konrad Schöbel) wird Teil dieses packenden Panoramas. Wenn die Massen mit der Auflösung des Uranabbaus verschwinden und fahle Helligkeit den Raum flutet, gleicht das dem kaum wirksamen Kühlen einer dumpf und laut pochenden Wunde. Die Robert-Schumann-Philharmonie trägt die Solostimmen optimal, die Chorstimmen verschmelzen stellenweise mit dem Orchesterklang. Bei seinem Stückdebüt sorgt der junge Kapellmeister Maximilian Otto für den hier sehr wichtigen leichten Fluss, weil Vollmer die bleiern werdende Zeit durch Bewegung spürbar macht. Der Bariton Thomas Essl gestaltet den zu Tode kommenden Peter mit Sympathie. Zwischen ihm und Xinmeng Liu als Ingrid gibt es leise Momente von berührender Emotionalität. Elisabeth Dopheide als Ruth zeigt die kleine Tragödie des langsamen Sturzes von hochmotivierter Jugendlichkeit zu einer von Verbitterung und Krankheit gegerbten Person. In Erstaunen versetzt Countertenor Etienne Walch als Intellektueller Christian. Sein leicht rauchig bis gutturales Timbre nützt er dramatisch mit kräftiger Expression in den Höhen.
Jaco Venter gibt mit starkem Bariton den KZ-Überlebenden Hermann Fischer, der sich zu einem Sprachrohr für den Sozialismus macht. Im beeindruckenden Chemnitzer Ensemble finden sich für die vielen mittleren Partien überaus präsente und immer sehr schön klingende Stimmen, allen voran Tea Trifković, Maraike Schröter und Paula Meisinger als „Drei grelle Mädchen“. Vollmer gewährt den namenlosen Menschen im Kollektiv gut platzierte Auftritte und fordert die starken Ressourcen der Chemnitzer Opernsparte. Das „Projekt für Chemnitz 2025“ ist so intensiv, dass es in Folgeinszenierungen noch viele weitere Aspekte zu entdecken gibt. Struktur und Form machen „Rummelplatz“ zu einem Volltreffer für viele Anreisende und einen erfreulich hohen Anteil an neuem Publikum.
„C the Unseen“, das Motto der Europäischen Kulturhauptstadt 2025, war schon im Juni der Anlass für einen faszinierenden Outdoor-Parcours des Ballett Chemnitz: In 15 Stunden an vier Tagen gestaltete Ballettdirektorin Sabrina Sadowska das Großspektakel im Festival „Tanz I Moderne I Tanz“ als offene Paraphrase von James Joyces Roman „Ulysses“ über den 16. Juni 1904 in der irischen Hauptstadt Dublin. Einladungen zur Mitgestaltung gingen an internationale Kompanien, die auch mit Gastspielen auftraten. Sie erhielten für „Odyssee in C“ je ein Kapitel von „Telemachos“ bis „Ithaka“ in chronologischer Parallele zum Roman und für einen Aufführungsort im Stadtraum Chemnitz zugeteilt. Weil sich Joyce symbolisch und inhaltlich auf Homers Epos bezieht, setzte die tänzerische Gestaltung auch Analogien zur altgriechischen Mythologie über Irrfahrten und Heimkehr. Ausnahmslos entwickelten alle Kompanien narrative Konstrukte. La Cie Ex Nihilo aus Frankreich verwendete leere Flaschenkästen. Das im „Lotophagen“-Kapitel mit einem Jugendprojekt bespielte Stadtschwimmbad wurde vom Ballett Chemnitz als Theater- und Tanzraum entdeckt.
Weitere „Odyssee“-Stationen waren Markthalle, Schlossfriedhof, Schlossteichinsel und urbane Wunden wie die Einkaufsstraße Brühl, deren Niedergang sich parallel zur Inbetriebnahme des neuen Geschäftszentrums um den Roten Turm vollzog. Der Beitrag dort von Le Plus Petit Cirque du Monde war akrobatisch orientiert wie die Menschensäule von Cie Retouramont auf dem vor allem als Firmenparkplatz genutzten Gelände des Staatlichen Museums für Archäologie Chemnitz (SMAC). Ohne die Beiträge der Theater Chemnitz wäre das Chemnitzer Kulturhauptstadt-Jahr um wesentliche Beiträge zur industriellen und politischen Vergangenheit ärmer.
Roland H. Dippel |