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Jubel, Korrekturen, Lücken
Das Festjahr Johann Strauss 2025 in Wien und anderswo

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Dystopie und Utopie
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Die Semperoper auf einer Krypto-Briefmarke

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Hintergrund

Jubel, Korrekturen, Lücken

Das Festjahr Johann Strauss 2025 in Wien und anderswo

Von Roland H. Dippel

„Johann Strauss dirigiert in London – und er kann zufrieden sein“ oder „Donner, Blitz und Walzerseligkeit: So wurde Johann Strauss in Erlangen gefeiert“. Das waren zwei Google-News zum Schlagwort Johann Strauss, zehn Tage vor dessen 200. Geburtstag am 25. Oktober 2025. Das Auffallende dabei: Viele dieser Titel klangen, als sei der heute populärste, am 3. Juni 1899 in seiner Geburtsstadt Wien verstorbene Spross der erfolgreichen Musikunternehmer-Familie Strauss gar nicht tot, sondern würde mit seinem Orchester noch immer von Ort zu Ort touren. Bei Abgabe dieser Jubiläumshommage standen der Ehrentag in Ö1 sowie die Galakonzerte mitsamt Festakt im Wiener Rathausfestsaal als Leuchttürme des Festjahres Johann Strauss 2025 Wien noch aus. Am 25. Oktober präsentierten die Wiener Philharmoniker ihre Hommage „Alle hundert Jahre wieder“ mit derselben Programmfolge wie bereits zum hundertsten Geburtstag 1925. Am Abend folgten die Wiener Symphoniker mit einer Uraufführung von Max Richter für die Geigerin Anne-Sophie Mutter. Zwei Tage zuvor hatte die Johann Strauss-Gesellschaft Wien zur Kranzniederlegung am Ehrengrab ihres Namensgebers auf dem Wiener Zentralfriedhof geladen – unter Ehrenschutz von Bundeskanzler Christian Stockerer, mit einer Rede von Willy Strauss, dem Familienoberhaupt der Strauss-Nachfahren, und der Gardemusik Wien unter dem österreichischen Heeresmusikchef Oberst Bernhard Heher. Höhere Memorien und Hommagen gibt es nicht. Ein gewiss wesentlicher Aspekt für die Kuratierung dieses ganzen Festjahrs in Wien war, dass der „wichtige Vermittler der damaligen Avantgarde-Musik“, der Wagner- und Meyerbeer-Arrangements in Konzerte einschob, in Wien geboren wurde und dort auch starb. Die meisten anderen berühmten Komponierenden waren dort nur Zugezogene: Mozart aus Salzburg, Beethoven aus Bonn, Brahms aus Hamburg, Bruckner aus Linz, Mahler aus Böhmen, Richard Strauss aus München.

Rap im Dreiviertel-Takt

Das originär Wienerische sowie Strauss’ Weltläufigkeit samt einer Scheidung im Herzogtum Coburg und der Tourismus-Appeal des Walzerkönigs waren für Festjahr-Intendant Roland Geyer ein riesiges Feld, um mit den ihm bestens bekannten Kulturinstitutionen eine feine Spektakelfolge zu generieren. Der durch globale Mediendominanz der Wiener Neujahrskonzerte omnipräsente „Schani“ wurde als Person und Phänomen, Unternehmer und Schöpfer gewürdigt. Seine Opera 1 bis 479 geben nur unzureichend Aufschluss über das Gesamtschaffen, weil Johann Strauss Sohn oft mehrere Adaptionen eines Einfalls gestaltete und viele Titel ohne Opuszahl hinterließ. Der Festjahr-Almanach erweist sich trotz praller 286 Seiten als fragmentarisch. Was beabsichtigt war, benannte die österreichische Rapperin Esra Özmen: „Heute mixe ich die Genres, weil Wien mixed ist./ Aus der Musik hört man, wie die Gesellschaft drauf ist.“ und: „Heute rap ich auch mal auf ¾-Takt, verbinde Walzer mit Rap,/ bring Rap zu Hochkultur, weil ich weiß, dass das geht.“ Özmen plädiert für weltoffene Musik in einer offenen Weltstadt. Marion Linhardt steuert vorbei an Edmund von Hellmers Johann-Strauss-Denkmal im Wiener Stadtpark zu Strauss’ „Elek­trische Funken Walzer“ und die vom „Zigeunerbaron“-Librettisten Ignaz Schnitzer gefundene „Formel ‚ungesucht‘ – also unmittelbar eingängig“. Hanns-Josef Ortheil nennt Strauss, inspiriert durch den erotischen Zeichner Franz von Bayros, einen Motor für die „innere Ekstase einer Klanggesellschaft“.

Johann Strauss, „Die Fledermaus“ mit dem Ensemble am Theater an der Wien. Foto: Karl Forster

Johann Strauss, „Die Fledermaus“ mit dem Ensemble am Theater an der Wien. Foto: Karl Forster

Jede dieser Apologien wirkt trotz aphoristischer Schlagkraft unvollständig, lückenhaft, unfertig. Mit einer immensen Fülle von „60 Produktionen an 50 Locations“ zwischen Anspruch und Niederschwelligkeit hatte man doch immer wieder den Eindruck, dass etwas Entscheidendes fehlt. Als Orientierungshilfe gab es drei Programmlinien: „PUR“ stand für „originale Strauss-Musik in hochkarätigen Aufführungen“ und „Einzigartigkeit der zeitlosen Kompositionskunst“, „MIX“ meinte Überschreibungen aus verschiedenen Motivationen und „OFF“ katapultierte „Musik von Strauss in ganz neue Dimensionen von Klang, Zeit und Raum“, Digitalität und VR inbegriffen.

Goldene Operette?

Besonders spannend in diesem Strauss-Kosmos ist natürlich das Bühnenschaffen. Nach der Liste des Wiener Instituts für Strauss-Forschung gibt es 17 Original-Bühnenwerke von Johann Strauss Sohn. Mindestens sieben waren im Festjahr – teils behutsam aktualisiert – angekündigt.

Ein ambitioniertes, aber in den Medien nicht sonderlich gut weggekommenes Event war im September die Zirkus-Operette „Cagliostro“ im Roncalli-Zelt. Bestsellerautor Thomas Brezina ließ sich von Strauss’ fast vergessener Operette „Cagliostro“ inspirieren. Aus 28 Stücken kreierte und arrangierte Johnny Bertl 32 Popsongs, die im flächig-basslastigen Sound­design von Viktor Seedorf ebenso einer Hommage an Andrew Lloyd Webber gleichkamen. Die Leichtigkeit und Poesie war also vor allem auf Seite der phänomenalen Acts des Roncalli-Akrobatenensembles. Strauss’ originale Operette auf das Textbuch von Richard Genée und Camillo Walzel erlebte ihre Uraufführung 1875 in Wien, drei Jahre nach „Die Fledermaus“. Bei Brezina & Bertl mischt der Abenteurer Cagliostro nicht den Hof Maria Theresias auf, sondern den Zirkus der voll im Wechseljahre-Blues steckenden Madame Sophie (Eva Maria Marold) und von deren kreativ unternehmungslustigem Sohn Severin (Josef Ellers) – zu Klängen aus Disco und Drums.

Genau genommen war nur die erste Festjahr-Operette der Programmlinie „PUR“ zuzuordnen: „Das Spitzentuch der Königin“ geriet zur unterhaltsamen Regie durch den Österreicher Christian Thausing, der das Geschehen vom portugiesischen Hof des 16. Jahrhunderts auf einen Jahrmarkt des 19. Jahrhunderts verlegte. Es erklang mit dem Wiener Kammerorchester und dem Arnold Schoen­berg Chor eine Mischung aus der Zensur-, der Soufflage- und der US-amerikanischen Fassung.

Obwohl bei Operetten aufgrund der offenen und leichten Form noch schwerer vorhersehbar ist als bei Opernproduktionen, welche Gedankenmanöver das Publikum mitmacht und befürwortet, wurden die Festjahr-Beiträge ein facettenreicher Überblick zu gegenwärtigen Inszenierungs- und Konzeptmethoden. Die künstlerische Neubeachtung und Aufwertung der Kunstform Operette, ein neuer Ernst im Umgang damit sowie die Kritik an deren patriarchalen, militaristischen und kolonialen Sujets stellte vor schwere Herausforderungen. Weil man fast alle Dialoge mit Distanz zu den normativen Geschlechterrollen des 19. Jahrhunderts bearbeitete, ergab sich eine Vielfalt von Schein-, Not- und Verlegenheitslösungen. Das Strauss-Festjahr wurde dadurch auch zur Demonstration von Fallstricken im Reinigungsprozess an gealtertem Textmaterial.

Neue Lesarten

„Das kann eigentlich nur schiefgehen.“ sagte Stefan Herheim, Intendant des Theaters an der Wien, wo „Die Fledermaus“ am 5. April 1874 zur Uraufführung gelangte. Der häufigste Kritikpunkt an Herheims im Oktober herausgekommener „Fledermaus“-Inszenierung war deren umfangreiche Ergänzung mit historischen Akzenten. Neben den originalen Musiknummern erklangen die Kerker­arie des Florestan aus Beethovens ebenfalls im Theater an der Wien uraufgeführter Oper „Fidelio“, ein Song aus dem Musical „Elisabeth“ und anderes. Die Habsburger Doppelmonarchie wurde durch die Darstellung des Gefängniswärters Frosch mit der Gestalt von Kaiser Franz Joseph I. zu einem metaphorischen Gefängnis. Ein Kalender zeigte den 11. März 1938, also den Vortag des „Anschlusses“ von Österreich an das nationalsozialistische Deutschland. Viele fühlten sich von dem historischen Überbau Herheims überrumpelt. Dabei verlor der Handlungskern – eine schwankartige Verwechslungs-, Seitensprung- und Rachekomödie – an Bedeutung.

Johann Strauss, „Waldmeister“ mit Anna-Katharina Tonauer (Jeanne), Alexander Findewirth (Erich), Riccarda Schönerstedt (Regina), Sophia Keiler (Pauline Garlandt), Robert Meyer (Christof Heffele), Caspar Krieger (Stadtrat Danner), Statisterie des Staatstheaters am Gärtnerplatz. Foto: Marie-Laure Briane

Johann Strauss, „Waldmeister“ mit Anna-Katharina Tonauer (Jeanne), Alexander Findewirth (Erich), Riccarda Schönerstedt (Regina), Sophia Keiler (Pauline Garlandt), Robert Meyer (Christof Heffele), Caspar Krieger (Stadtrat Danner), Statisterie des Staatstheaters am Gärtnerplatz. Foto: Marie-Laure Briane

Drei Operettenproduktionen entstanden mit deutschen Musiktheatern. In beiden Koproduktionen mit dem Aalto Theater Essen inszenierte Nikolaus Habjan. Beglückend geriet die halbszenische Einrichtung von „Karneval in Rom“ (in Wien unter den Konzerten gelistet) im Frühjahr. Die von Habjan geführte Klappmaulpuppe verkörperte diesmal den österreichischen Musikkritiker Julius Bienenzeisel. Glanzstück pointierter, aber auch liebevoller Ironie: Bienenzeisel alias Habjan führte durch die Handlung, war distinguiert, redselig und vergewisserte zu einer römischen Milieuszene: „Diese Damen – Sie werden es gemerkt haben – sind käufliche Damen.“ Im Plauderton setzte Habjan aussagekräftige Plattitüden und verbrüderte sich in vermeintlicher Einmütigkeit mit seinem Publikum für die Scheinwahrheit, dass in der Operette alles seine äußere und innere Ordnung haben müsse.

Fatalerweise zeigte Habjan diesen ordnenden Gerechtigkeitssinn auch in seiner seit Oktober 2025 an die Aalto-Oper übernommenen Inszenierung von „Wiener Blut“. Das Stück spielt während der Zeit des Wiener Kongresses 1815, bei dem der aus einem mitteldeutschen Ministaat stammende Graf Zedlau einen übergriffigen und gewissermaßen vorbürgerlichen Lebensstil führt. Nur eine Figur ist in Habjans moralischer Lesart nicht korrupt: Die „Probiermamsell“ Pepi (Sophie Mitterhuber) zeigt im Hoftheater Schönbrunn bereits beim ersten Auftritt ein auffällig verhärmtes bis strenges Gebaren. Am Ende lässt sie ihren Liebhaber Josef, einen opportunistischen Kammerdiener, hinter sich – und auch dessen adeligen Arbeitgeber nebst Liebschaften. Diese bejubeln im Finale das „Wiener Blut“ mitsamt dem Schäbigkeitsgen darin.

Das Wiener Kammerorchester und die Dirigentin Hannah Eisendle bekundeten Unwillen gegen die aufgesexten Zumutungen der Handlung und wehrten sich durch blässliche Begleitung, die jedes erotische Operetten-Glitzern mit Nichtbeachtung strafte.

„Waldmeister“ in München

Es war klar, dass das Gärtnerplatztheater München mit seinem aus Österreich stammenden Intendanten Josef E. Köpplinger als eine der wichtigsten deutschen Operettenhochburgen beim Wiener Strauss-Jubiläum 2025 mit Aufführungen im Kunstquartier mitmischte. Die Neuproduktion von dessen vorletztem Bühnenwerk „Waldmeister“ im April 2025 war auch eine Münchner Angelegenheit. Am Gärtnerplatz lief „Waldmeister“ 1896 und nochmals 1935, als man im Nationalsozialismus die jüdische Herkunft der Walzerkönige zur geheimen Reichssache erklärte. Sittengeschichtliche Details, denen Habjan mit Vorliebe Abstand und Abneigung entgegenbrachte, setzen bei Köpplinger enorme Spaßenergien frei. Ein Abspann rückte „Waldmeister“ Richtung Heimatfilm der 1950er-Jahre.

Der im Forstakademie-Paradies Tharandt bei Dresden angesiedelte Plot rutscht in den Wienerwald bei Mayerling und dort ins Hotel „Zur Waldmühle“. Köpplingers Texte sind fast so spießig und retro-banal wie die Urfassung: „verdrossen“ reimt sich auf „begossen“. Mit Hintergedanken: In Köpplingers „Weißes-Rössl“-Transformation lauern hinter Sonnenbrillen und Glockenröcken emanzipierte Frauen mit Spaß-Offensiven und trocken artikulierter Neugier auf flotte Vergnügungen. Damit es nicht zu brachialen Übergriffen kommt, nehmen die Männer nie nur das emanzipierte Frauen-Wild, sondern immer auch ein bisschen ihre dafür aufgeschlossenen Kompagnons ins Visier. Matteo Ivan Rašić und Ludwig Mittelhammer machten mit fulminanter Totalwirkung deutlich, warum die Försterei in Mitteleuropa zu den begehrtesten Berufsgruppen gehört. Auf dem Mitschnitt von cpo hört man diese Details leider nicht, da wurden alle Dialoge gestrichen.

„Der Zigeunerbaron“

Am ambitioniertesten geriet die Eigenproduktion (gefühlt zwischen den Programmlinien „MIX“ und „OFF“) von „Der Zigeunerbaron“. Das Fassungs- und Gewissensgezeter um die Fast-Oper und deren heute nur noch in Anführungszeichen tragbaren Titel begann schon lange vor Tobias Kratzers Fleischhaus- und Coronafassung an der Komischen Oper 2021 – früher jedoch nicht wegen der fragwürdigen Setzung um Sinti und Roma als Bühnen-, Phantasie- und exkludierte Klischeefiguren, sondern um die Militarismus-Verherrlichung anhand des für die Handlung wichtigen österreichischen Erbfolgekriegs 1740 bis 1748. Den mit dem Radetzkymarsch um die Publikumsgunst wetteifernden Einzugsmarsch im dritten Akt nahm man Strauss übel, weniger in Österreich als in West– und Ostdeutschland. Trotzdem. Die Uraufführung „Das Lied vom Rand der Welt oder Der „Zigeunerbaron“ wurde im Museumsquartier am 25. März gefeiert.

Dem leichten Verlust an Spannungsdynamik konnte auch der global und in Sachen Wirtschaft dialektisch denkende Dramatiker Roland Schimmelpfennig in seiner doch recht ernsten Adaption nicht ganz entgehen. Aus „Zigeunern“ machte er Nomad*innen und aus der Schweinemast eine Fleischindustrie „am Rand der Welt“. Weite Teile von Ignaz Schnitzers Originaltextbuch wurden den Figuren als Erzähltheater zugewiesen, Sexuelles verklärt und ideologisch Fragwürdiges entschärft. Bei der Premiere fiel das aber kaum auf dank der Ausstattung, dem intelligent-sinnlichen Soloensemble, dem Strauss-Relaunch der Musicbanda Franui und dank einer die Moralitätsfallen geschickt abfedernden Ausstattung von Anne Ehrlich und Anna Sünkel. Gröbere Striche betrafen nur den berüchtigten Einzugsmarsch und sein Gegenstück, den Arbeitschor. Im ersten Akt gibt es unter den Dialogen ganz aparte Melo­dram-Musik, die später jedoch ganz versiegt. Dafür legt Franuis „Folklore Imaginaire“ an Blech und groben Rhythmen zu, wenn es sich um die Bösen im Stück handelt. Immer wieder andere Schlagwerk- und Arrangement-Effekte reihen sich, die Klanggeschehen in ständigen Wandel und Aufruhr versetzen. Man hörte deutlich Franuis Liebe zum Original. Und Anna Sushon am Pult machte Strauss’ Musik zu einem urbanen Chill-out, das die Intensität eines mit großem Können arrangierten, dabei minimal überwürzten Balkan-Menüs erhielt. Der zwischen Wursttheke und Camping-­Utensilien agierende Arnold Schoenberg Chor war auch gefrustetes Lohnproletariat. Der Schauspiel-Regisseur Nuran David Calis ging jedem Detail auf den Grund – inklusive einer groben Poesie, die dann doch noch vor einer Überfrachtung zum Problemstück bewahrte.

Insgesamt belegen die Musiktheaterproduktionen des Strauss-Festjahres mehr die Probleme mit dessen Bühnenschaffen in Hinblick auf Text und Handlung. Dabei bestätigt die Wiener Anhäufung von Inszenierungen eine sinnliche Potenz und Vitalität, die auch für das 21. Jahrhundert Gültigkeit hat. Derzeit explodiert nach einer Periode strenger Originalitätstreue die Neugier auf Überschreibungen, Neubetextungen und Gattungsgrenzgänge, nicht nur in der Operette. Deshalb sollte man das Wiener Strauss-Festjahr im Hinblick auf die Bühnenwerke weniger als Resümee denn als Anstoß betrachten, zum Beispiel für eine Neuproduktion von Strauss’ Oper „Ritter Pásmán“.

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