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Berichte
Gefallen(d)er Engel
Giacomo Puccinis Frauenschicksal „Manon Lescaut“ an der Oper Köln
Wer ist Täter, wer Opfer? Wem kann man glauben? Sind es echte Schicksale oder nur Rollen? Warum soll die junge Frau in ein Kloster gesteckt werden? Weil ihre Familie arm, religiös, sittenstreng ist? Hat sich die 18-jährige etwas zu Schulden kommen lassen? Oder ist die vom Bruder herumerzählte Geschichte nur eine rührselige Masche, um Männerfantasien zu wecken und reiche Pinkel zu angeln, die sich dann als Retter der Schönen im weißen Unschuldskleidchen aufspielen können? Wird die Frau als Köder missbraucht oder ist sie selbst ein fatales Luder, das Männer wie Mäuse fängt?

Giacomo Puccinis Frauenschicksal „Manon Lescaut“ an der Oper Köln
Das Libretto von Giacomo Puccinis „Manon Lescaut“ nach Antoine-François Prévosts Roman des frühen 18. Jahrhunderts gibt kaum Hintergründe der Personen preis. Vom munteren Anfang bis zum bitteren Ende belässt das vieraktige „Dramma lirico“ vieles in der Schwebe. Die Uneindeutigkeit ist jedoch eine Stärke der 1893 uraufgeführten Oper über die junge Titelfigur in einer von Männern mit Geld dominierten Gesellschaft. Manon wird wegen ihrer Schönheit primär als Objekt wahrgenommen und nutzt dies auch aus, kann sich deswegen aber nicht als selbstbestimmtes Subjekt entfalten. Wie die Hauptfigur schillert die gesamte Oper zwischen romantischer Liebe und ironischer Brechung. Gleich zu Beginn wird ein Opernwettbewerb abgehalten, bei dem Männer überschwängliche Liebesarien zum Besten geben, nicht weil sie wirklich verliebt wären, sondern weil dies Wettstreit, Rollenbild und Draufgängerpose verlangen. Die derart vorgeführte Musik lässt – wie öfter bei Puccini – an der Echtheit der besungenen Gefühle zweifeln.
Für die Neuinszenierung an der Oper Köln platzieren Regisseur Carlos Wagner und Bühnenbildner Frank Philipp Schlößmann ein Karussell auf der sonst weitgehend leeren Bühne als Allegorie auf das Leben als Glücksrad und Kreislauf der Eitelkeiten. Das Ringelspiel ist Teil des ländlichen Jahrmarks, auf dessen silbernen Pferdchen Manon, ihr Bruder und ein reicher Bürger eintreffen. Hier trifft sich Manon mit dem jungen Studenten Des Grieux, der zuvor den „Gran Concorso Lirico“ gewann und sich schlagartig in die schöne Frau verliebt. Zusammen fliehen beide nach Paris, und zwar mit der Kutsche, die sich der reiche Lüstling Geronte (Christian Saitta) besorgen ließ, um die junge Frau zu entführen beziehungsweise vor dem Kloster zu retten. In der Metropole sorgt dann jedoch Bruder Lescaut (Wolfgang Stefan Schwaiger) dafür, dass die attraktive Schwester den mittellosen Liebhaber verlässt und gegen den alten Geldsack eintauscht.
Carolina López Moreno ist in der Titelpartie überragend, stimmlich wandelbar, kraftvoll selbst die stärksten Tutti überstrahlend und schauspielerisch expressiv schwankend zwischen Durchtriebenheit, Luxusgier, Unbedarftheit und echter Emotion. Ebenbürtig an ihrer Seite agiert bei der ersten Folgeaufführung nach der Premiere Tenor Young Woo Kim als Des Grieux und der von Rustam Samedov einstudierte Chor der Oper Köln als Landvolk und Salongesellschaft. Das Gürzenich-Orchester unter Leitung des neuen Kölner GMD Andrés Orozco-Estrada spielt Puccinis brillant instrumentierte Partitur differenziert aus, zuckersüß schwelgend, schicksalsschwer hämmernd sowie mit fahler Tristesse am Ende. Jon Morrells Kostüme sind dagegen farb- und aussagelos, nur schwarz oder weiß mit Graustufen dazwischen, einzig Manon trägt im zweiten Akt Rot.
Da erscheint sie wie Marlene Dietrich in „Der Blaue Engel“ im engen Frackoberteil mit langen nackten Beinen. Der Bruder schießt Pin-up-Fotos von ihr, und das kokette Girl posiert vor Gästen des Sugar Daddy gelangweilt-lasziv an den Stangen des vormaligen Karussells. Im dritten Akt werden die Stangen zum Gefängnis, in dem die Betrügerin und Schmuckräuberin landet, um nach Amerika verschickt zu werden. Dort stirbt Manon schließlich in menschenfeindlicher Wüste auf den Trümmern ihres zerbrochenen Lebenskarussells. Wie ihre erste Arie wird ihr letzter Sterbegesang ganz schlicht von einer Soloflöte begleitet. Die zarte Erinnerung an verlorene Unschuld und an den Anfang der Tragödie tönt von fern jenseits des Orchesters.
Rainer Nonnenmann |