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Rezensionen
Geschichte einer intensiven Beziehung
Eckart Kröplins Buch „Richard Wagner und Russland“
Wagner und Russland, das ist ein großes Thema. Von frühester Kindheit an prägte Russland das Leben Richard Wagners. Und doch hat sich bisher fast kein Wagner-Lexikon oder Wagner-Handbuch dem Themenkomplex „Wagner und Russland“ gewidmet, etwa der für den Komponisten nicht unwesentlichen Wertschätzung seines Werks in Russland, seiner Rezeption ebendort und seinen biografischen Bezügen zu diesem Land.

Eckard Kröplin, „Richard Wagner und Russland“, J.B. Metzler/Bärenreiter, Stuttgart/Kassel 2025, 359 S., 10 s/w-Abbildungen, 44 Farbabbildungen, 39,99 Euro
Russland wurde immer schon, lange vor Putin und seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine, vom Westen mit Unbehagen, wenn nicht mit Angst betrachtet, so Eckart Kröplin in seinem neuesten Buch „Richard Wagner und Russland“. Kein Wunder, dass in der deutschsprachigen Literatur über Wagner dieses Thema „bis heute als peripher, als nicht eigentlich darstellbar“ galt, so beklagt der Autor, der aus seiner Sympathie für alles Russische keinen Hehl macht. Der renommierte Musik- und Theaterwissenschaftler und ausgewiesene Wagnerkenner hat zahllose Publikationen zu Wagner veröffentlicht und war von 1984 bis zum Ende der DDR Chefdramaturg und Stellvertreter des Intendanten an der Semperoper Dresden. In seinem neuesten Buch schildert er in elf Kapiteln die biographischen und künstlerischen Berührungspunkte Wagners mit Russland. Zudem schreibt er Erhellendes über Wagners russische Förderer und Mäzene, allen voran die Großfürstin Helena Pawlowna.
Wie man bei Kröplin nachlesen kann, wurde Richard Wagner von seinem Stiefvater, dem Dresdner Schauspieler und Porträtmaler Ludwig Geyer, der wohl mitnichten Wagners leiblicher Vater war (wie Kröplin anmerkt), schon als Kleinkind der kleine „Kosak“ genannt. Richard war ein sehr lebhaftes Kind. Sein Geburtsjahr 1813 fiel in die Blütezeit der Kosaken-Furcht und auch Begeisterung im Gefolge der Leipziger Völkerschlacht, die in Literatur wie Bildender Kunst ihre Spuren hinterließ. Wagners erster Kontakt mit Russland kam zustande, als er im Juni 1837 von Theaterdirektor Karl von Holtei als Kapellmeister nach Riga engagiert wurde, Riga war von 1710 bis zum Ersten Weltkrieg (1917) russisch. Im Großen Nordischen Krieg wurde Riga am 4. Juli 1710 von russischen Truppen unter Zar Peter dem Großen erobert. Das Vergnügen der Anstellung des damals 24-jährigen dauerte zwar nur kurz (von August 1837 bis Juli 1839), doch Wagner machte als angehender Theatermann, Musiker und Chefdirigent am Stadttheater in Riga wertvolle Erfahrungen.
Er dirigierte in Riga ein beachtliches Opern- und Konzertrepertoire, und last but not least arbeitete er an seinem „Rienzi“. Schon damals ein Halodri in Geldangelegenheiten, wurde er vom neuen Direktor des Stadttheaters, dem aus St. Petersburg stammenden Tenor Hoffmann wegen seiner Schulden entlassen, was seinem Aufenthalt in Riga ein Ende setzte. Wagner und seine Frau Minna flüchteten – von Gläubigern verfolgt – bei Nacht und Nebel ohne Pässe über die russisch-ostpreußische Grenze. Die dann folgende abenteuerliche Schiffsreise nach London und Boulogne-sur-Mer inspirierte ihn zum „Fliegenden Holländer“.

„Lohengrin“ am Bolschoi Theater Moskau 1923. Szenenbild (Bühnenbild: Fjodor Fjodorowski)
Im Frühjahr 1863 wurde Wagner von der Petersburger Philharmonischen Gesellschaft zu einigen Konzerten eingeladen. Initiator war Alexander Serow, ein großer Verehrer Wagners, der ihn in den 1850er Jahren durch einige Artikel in Russland bekannt gemacht hatte und damals bei der wegen Wagners politischer Vergangenheit skeptischen Obrigkeit die Genehmigung für dessen Gastspiel erwirkt hatte. Wagner, von finanziellen Problemen geplagt, nahm dankend an. Auf dem Programm der drei Petersburger Konzerte standen neben eigenen Werken auch Beethovens dritte und fünfte Sinfonie. Kritik und Publikum waren hellauf begeistert und feierten Wagners Kompositionen ebenso wie sein Dirigat des 130 Mann starken Orchesters der Petersburger Philharmonischen Gesellschaft. Im Palais der Großfürstin Helena Pawlowna traf Wagner auf den Komponisten und Pianisten Anton Rubinstein. Ende März reiste er für drei ebenfalls gefeierte Konzerte nach Moskau, wo er die Bekanntschaft mit Nikolaus Rubinstein, des Direktors der „Russischen Musikalischen Gesellschaft“, machte. In Teegesellschaften der Großfürstin las er Texte aus „Die Meistersingern von Nürnberg“ und dem „Ring“ vor, bevor er Ende April für weitere Konzerte nach St. Petersburg zurückkehrte. Kröplin berichtet detailliert über Wagners Gastspiele in Russland, die unterm Strich alles andere als ein finanzieller Erfolg waren.
Die russische Kultur entwickelte zu kaum einem anderen ausländischen Komponisten eine so intensive Beziehung wie zu Wagner. Allerdings polarisierte dieser nicht nur in Deutschland, sondern auch in Russland sein Publikum. Die Musiker der „Neuen russischen Schule“, deren Ideal die wahrheitsgetreue Abbildung der Welt war, lehnten Wagners romantisches Musikdrama zunächst ab und fanden erst um die Jahrhundertwende zu ihm.
Dennoch gehörte Wagner nach den Konzerten 1863 an russischen Theatern zum Kern-Repertoire. Bis 1914 wurde in St. Petersburg allein Lohengrin 135 mal aufgeführt, Tannhäuser 137 mal. Außerdem beeinflusste Wagner maßgeblich die russischen Symbolisten Wjatscheslaw Iwanow, Andrei Bely und Alexander Blok, die seine Werke als Gegenmodell zu Naturalismus und Materialismus feierten. Der enthusiastischste Wagnerianer Tschaikowsky, der den Meister aus Bayreuth auch persönlich kennenlernte, nannte ihn einen „Don Quixote“. Auch die Vertreter des „Mächtigen Häufleins“ sowie Skrjabin, Turgenjew, Tolstoi und Dostojewski und die Theaterleute Lunatscharski und Lossew kommen in Kröplins Buch zu Wort.

Zweisprachiger Programmzettel zu Wagners zweitem Petersburger Konzert am 26. Februar 1863 in Petersburg
Große Aufmerksamkeit widmet der Autor Wagners Verhältnis zum faszinierenden russischen Berufs-Revolutionär (der überall in Europa gern mitzündelte) Michail Bakunin, der dem russischen Uradel entstammte und eine wohlgebildete, sanfte Seele gehabt haben soll. Wagner lernte diesen in Dresden kennen. Beide standen sich während der Revolution von 1848/49 in Dresden sehr nahe und kämpften Seite an Seite auf den Barrikaden. Dann allerdings distanzierten sie sich voneinander. Bakunin wählte später den eher politischen Weg, während Wagner sich auf die Kunst und den Rückzug ins Private konzentrierte. Beide endeten im Exil. In „Mein Leben“ erinnert sich Wagner rührend an Bakunin.
Kröplin schildert das Verhältnis russischer Musiker und Dichter zum deutschen Komponisten differenziert und legt großen Wert auf die Feststellung der Tatsache der zeitweiligen Dominanz von Wagners Opern im Repertoire der russischen Opernhäuser und Konzertsäle. Er betont Wagners herausragende Bedeutung für russische Künstlerkreise, aber auch seine widerspruchsvolle Rezeption nach der Oktoberrevolution und unter der Herrschaft Stalins.
Nur kurz beleuchtet das letzte Kapitel „Wagner jenseits der Sowjetunion“ die neue Wagnerbegeisterung der letzten Jahrzehnte seit etwa der umstrittene, weil Putin treue Dirigent Valery Gergiev einen neuen Wagnerboom in den „Russisch-deutschen Kulturbeziehungen“ ausgelöst habe, „ein stets neu aufreizender Bezugspunkt in künstlerischer, ästhetischer und kulturpolitischer Hinsicht“. Was immer das meinen soll. Zahlreiche Abbildungen und Literaturhinweise vervollständigen diese lange erwartete Monographie.
Dieter David Scholz |