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Editorial
Nur Kultur?
Editorial von Tobias Könemann
Immer wieder beklagen wir, dass bei klammer werdenden öffentlichen Kassen die Kultur als erste und oft überproportional „bluten“ muss. Wir führen das in der Regel darauf zurück, dass Kunst und Kultur in den Köpfen der politisch Verantwortlichen nicht die Priorität habe, die ihr gesellschaftlich gebühre. Ein Artikel von Martin Müller in der FAZ hat mich nun zum Nachdenken gebracht, ob das Problem nicht noch tiefer liegt. Er greift die Situation der Geisteswissenschaften auf, die – nicht nur in finanzieller Hinsicht – vom Schul- über das Hochschulwesen bis hinein in gesellschaftlich-politische Diskussionen vielfach noch beklagenswerter ist als die der Kunst. Beiden gemeinsam ist, dass sie Freiheit und kritischen Geist als Lebenselixier brauchen, Elemente, die in einem apodiktisch-technokratischen Weltbild höchst störend sind.

Tobias Könemann. Foto: Pascal Schmidt
Müller sieht den Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften – und man kann hier guten Gewissens die Kultur hinzunehmen – in einer bewussten und gezielten „ideologischen Umschichtung“, die sich aktuell am extremsten in den USA zeigt. Dort kann „paypal“-Mitgründer Peter Thiel, einer der einflussreichsten Köpfe der rechtsnationalen Bewegung, die Geisteswissenschaften offen pauschal als „verrückt und sinnlos“ diffamieren. Mitstreiter Elon Musk klingt nicht viel anders. Zudem wird das – allerdings ohnehin nicht besonders einflussreiche – US-Bildungsministerium gerade abgewickelt, und den Medien ist regelmäßig zu entnehmen, wie mit Hochschulen und Kulturinstitutionen umgegangen wird. „Project 2025“ ist leider nicht nur ein Gedankenspiel.
Ein solcher Ansatz bedient zwei in fataler Weise ineinandergreifende Interessen: das vieler Menschen, die sich von der Komplexität ihrer Lebensumstände überfordert sehen und nach „klaren Ansagen“ lechzen, und das narzisstisch-autoritärer Persönlichkeiten, die aus finanzieller Gier oder aus originärem Herrschaftswillen heraus einen Kontrollwahn entwickeln, der sich nur durch vollständige Beherrschung ökonomischer, gesellschaftlicher und kultureller Strukturen befriedigen lässt. Kunst bekommt dann nur insoweit einen Platz, als sie das System verherrlicht und so auch emotional positiv „erfahrbar“ macht oder, gemäß dem alten Schlagwort „panem et circenses“, der Unterhaltung und Zerstreuung dient. Das kennen wir nur zu gut aus der Reichskulturkammer. Am weitesten fortgeschritten ist ein solches System nach meinem Empfinden in China, die USA folgen jedoch mit Überschallgeschwindigkeit nach, und auch in Europa – einschließlich Deutschland, zumindest bezüglich der politischen Stimmung – sind die entsprechenden Umbautendenzen teilweise rapide auf dem Vormarsch.
All dem könnte man eine gewisse Legitimität zusprechen, wenn es geeignet wäre, die existenziellen Herausforderungen, denen sich die Menschheit ausgesetzt sieht, zu meistern. Doch das Gegenteil ist der Fall: Das Aufeinandertreffen hemmungsloser persönlicher und nationaler Egoismen führt eben nicht zu einem konzertierten Aufbruch in eine bessere Zukunft, sondern schürt – allzu oft gewaltsame – Konflikte und schwächt die Resilienz und Entwicklungsfähigkeit aller menschlichen Gesellschaften.
Das technokratische Welt- und Menschenbild ist ein höchst gefährliches Produkt der Aufklärung in Europa, die ihrerseits aber auf einem fruchtbaren Nährboden geisteswissenschaftlicher Erkenntnis gewachsen ist. Diesen Nährboden zu bewahren und zu entwickeln, ist eine zwingende Voraussetzung für das weitere Florieren menschlicher Gesellschaften, und die Kunst in allen Erscheinungsformen hat hier eine entscheidende Funktion.
Um diese wahrzunehmen, muss die Kunst nicht nur wehrhaft, sondern offensiv sein. Inhaltlich ist sie das – Gott sei Dank – in hohem Maße. Als „Institution“ kann sie spartenübergreifend und damit auch synergetisch aber noch an Lautstärke und Argumentationskraft zulegen, damit der Geist der Aufklärung nicht auf der Strecke bleibt.
Tobias Könemann |