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Rezensionen
Die Tragödie unserer Zeit
Neue DVD mit Mieczysław Weinbergs „Der Idiot“
Geradezu lachhaft in unseren Tagen: allumfassende Güte, tiefgehendes Verständnis, schrankenloses Mitleid, grenzenlose Zuwendung – das soll einen Opernhelden ausmachen?
Doch aus dem Leben von Mieczysław Weinberg (1919–1996) erwächst so ein Werk geradezu zwingend. In seinem Leben als polnischer Jude mit entsprechendem Künstlerschicksal finden sich die meisten Entsetzlichkeiten des 20. Jahrhunderts: mörderischer Nationalsozialismus, lebensbedrohlicher Stalinismus – wahrscheinlich durch Unterstützung von Dmitri Schostakowitsch gerettet, dennoch durchgängig bis zu seinem Tod vom russischen Antisemitismus umgeben. Allen unglaublich hinterhältigen Winkelzügen und miserablen Verboten der staatskommunistischen Zensur zum Trotz komponierte er als „Ausflucht“ Zirkus- und Filmmusiken sowie eine Fülle anspruchsvoller Werke, auch unterstützt von einheimischen Stars wie dem Ehepaar Wischnewskaja-Rostropowitsch. Dennoch wird Weinberg zum „vergessensten Komponisten“ des 20. Jahrhunderts – bis zur triumphalen Wiederentdeckung seiner Oper „Die Passagierin“ 2010 bei den Bregenzer Festspielen. Dem folgte 2013 die als „Entdeckung“ umjubelte, posthume Uraufführung von „Der Idiot“ in Mannheim.

Mieczysław Weinberg: „Der Idiot“, Salzburger Festspiele 2024, Inszenierung: Krzysztof Warlikowski, Musikalische Leitung: Mirga Gražinytė-Tyla, DVD bei Unitel
Die nun auf DVD festgehaltene, hochkarätige Salzburger Aufführung von „Der Idiot“ stellt Weinbergs Werk endgültig neben „Wozzeck“, „Lulu“ oder „Die Soldaten“ als Mahnmal gegen Inhumanität und als Leuchtturm wahren Menschseins.
Weinberg und sein kongenialer Librettist Alexander Medvedev haben Dostojewskis 800 Seiten starken Roman auf vier Opernakte verdichtet. Von einem teils stummen Figuren-Kranz umgeben, führt der junge, umtriebige Lebedjew durch zehn Bilder – was dem kernigen Tenor Iurii Samoilov spielerisch locker zwischen Zaubern und Klavier-Trinklied gelingt. Der vom Titelhelden schließlich links liegen gelassenen Aglaya verleiht Xenia Puskarz Thomas berührende Sopran-Lyrismen.
Im Zentrum stehen drei Figuren. Fürst Myschkin kehrt aus der Schweiz zurück, wo er lange wegen seiner Epilepsie behandelt wurde. Seine Eisenbahn-Bekanntschaft, der emotional mühsam gebändigte Lebemann Rogoschin, wird zum zwiespältigen Freund-Widersacher, als die im Kindesalter missbrauchte, zwischen Schmerz und Sinnlichkeit schwankende Nastassya auftaucht. Der hypersensible Myschkin erkennt ihre Not und will sie retten, Rogoschin erobert sie – und tötet sie, als sie ihn verlassen will.
Das hat Weinberg innerhalb der Tonalität mit viel Klangsinnlichkeit, fulminanten Ausbrüchen und expressiver Schroffheit komponiert. Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla entfaltet mit den Wiener Philharmonikern ein fesselnd vielfältiges Klangpanorama – so vielfarbig, dass mehrfaches Hören stets weitere Feinheiten erschließt.
Die Gebrochenheit Nastassyas ließe sich differenzierter, sensibel changierender vorstellen – Ausrine Stundyte wirkt da sehr direkt dramatisch und mitunter vokal scharf. Bariton Vladislav Sulimsky gelingt dagegen Rogoschins eher brachiale Lebenslust und Erotik stimmdarstellerisch so überzeugend, dass seine ungestüme Virilität eben im „Besitz durch Mord“ an Nastassya endet. Dem stehen Sätze wie „Der Mensch ist ein Rätsel, das man lösen muss“ gegenüber – was Fürst Myschkin aber nur zu einer mathematischen Unmöglichkeit zwischen Einstein und Newton an einer Tafel im Hintergrund führt. So singt er „Die Menschen können wunderschön und glücklich sein auf dieser Erde. Ich werde niemals glauben, dass Böses für das menschliche Leben normal ist.“ Mit seinen mal träumerisch, mal zerbrechlich, mal lyrisch überwältigenden Tönen gelingt Mozart-Tenor Bogdan Volkov das Porträt eines „Gottesnarren“ inmitten von „Damals“ und „Heute“ – anrührend, unvergesslich.
Das Erfreulichste ist, dass sich Regisseur Krzysztof Warlikowsky mit seiner Dauerausstatterin Malgorzata Szcześniak zurückgenommen hat: man sieht nur klug wechselnde russische Kleinszenerien auf der Breitwand der Salzburger Felsenreitschule. So kann die künstlerische Singularität des Werkes, seine klagend herausfordernde Aussage und humane Größe in und dann auch gegenüber unserer Welt wirken. Am Ende liegen alle drei Hauptpersonen unter Hans Holbeins „Der tote Christus im Grab“.
Wolf-Dieter Peter |