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Berichte
Am verschwiegenen Rand der BRD
Sabri Tuluğ Tırpans Oper „Ganz unten“ nach Günter Wallraff beim Kunstfest Weimar
Unter dem Motto „Mutig leben“ standen beim siebten und letzten von Rolf C. Hemke geleiteten Kunstfest Weimar 2025 noch einmal politische Themen im Fokus – neben Gedenken an den Holocaust, ein Stück über ökologische Ressourcenplünderung im Turbokapitalismus, Gewissenskonflikte im Rechtsruck und Brückenschläge zum Themenjahr „Faust“ der Klassik Stiftung Weimar. Das Deutsche Nationaltheater und die Staatskapelle Weimar waren diesmal nicht dabei. Infolge des Wechsels der Intendanz von Hasko Weber auf Valentin Schwarz setzte das DNT Mitte September einen separaten Eröffnungspunkt. Katharina Germo und Juliane Hahn als Doppelspitze kuratieren das Kunstfest dann ab 2026. Terminlich liegt die Veranstaltung weiterhin um Goethes Geburtstag am 28. August.

Sabri Tuluğ Tırpan, „Ganz unten“ nach Günter Wallraff beim Kunstfest Weimar. Foto: Thomas Müller
Die Opern-Uraufführung in der Redoute thematisierte Torturen der Arbeitswelt in der Bundesrepublik kurz vor dem Fall der Mauer. Das Trio von Komponist Sabri Tuluğ Tırpan mit Geiger Bora Gökay und Cellist Burak Ayrancı hatte für die Bühnenfassung der Investigativ-Reportage etwas von Kurt Weill-Songs, Atmosphäre à la Erik Satie und akademischer Gründlichkeit. Von Neuer Deutscher Welle und türkischem Ethnopop, wie er vor vierzig Jahren populär wurde, allerdings keine Spur. Diese Sounds verbreiteten sich parallel zum kometenhaften Bestsellerruhm von Günter Wallraffs längst sprichwörtlicher Enthüllungsarbeit „Ganz unten“ (Erstausgabe 1985), erst jüngst wieder in einer Neuausgabe mit einem Nachwort von Mely Kiyak erschienen.
Das neue, fast schüchterne Musiktheater-Zeitgemälde thematisiert, wie Gastarbeitende am tückischen Arbeitsleben Blessuren erlitten und auch tödlichen Schaden nahmen. In dieser Doku-Oper mit einem horriblen Sujet vom beginnenden Niedergang des deutschen Wirtschaftswunders positionieren sich nicht die Verursacher des sozialen Drucks, sondern die Nachkommen jener Gastarbeitenden- und Migrierenden-Generation, ohne die Westdeutschland sich nie in die vorderste Reihe der Industrie- und Exportnationen hätte hochschleusen können. Die plakative Szenenfolge von Mehmet Ergen kommt ganz ohne Aggressionen aus, verzichtet aufs Lamentieren und spiegelt nüchtern den bundesrepublikanischen Zeitgeist der 1980er Jahre auf schwarzer Bühne mit sacht spiegelnden Kostümen von Defne Özdoğan und monoton flächigem Licht von Richard Williamson.
Die Regie von Mehmet Ergen ist übersichtlich strukturiert, deutlich, leise und schließt kabarettgemäße Tanznummern ein. Günter Wallraff und die von ihm für die Recherchezüge selbst verkörperte Prekariatskunstfigur Ali sind auf zwei sehr unterschiedliche Darsteller aufgespalten. Der schlanke Günter Wallraff (Ryan Wichert) mit Brille kommentiert, reflektiert, räsoniert. Der größere, leicht bullige und vom Arbeitsstress bald entpersönlichte Ali (Bural Bilgili) agiert langsam und damit langsamer als die ihn permanent ausbootende Umwelt. Wallraff spricht viel, Ali singt dagegen häufiger, meistens geschlossene Melodien und resignative Aufwallungen. Aus dieser Gegenüberstellung hätte die Komposition durchaus schärfere Kontraste entwickeln können.
Für Wohlstandsdeutschland war Wallraffs Report über die zynischen Türkenversuche, weil billiger als Tierversuche, und die mit hohem Krebsrisiko verbundenen Wartungsarbeiten in den mit radioaktiven Dämpfen verseuchten Rohrgängen der Atomkraftwerke ein Informationsschocker. Wallraff durchbohrte gut gepolsterte Verdrängungen. Heute sind die Wissensbarrieren um Glanz und Elend des Turbokapitalismus weiter verbreitet als damals. Die Videos und Fotodokumente aus den 1980er Jahren machen die krasse Faktenfülle von Text und Oper leider etwas klein, wirken wie staunendes und affektives Studierendentheater angesichts einer die Spielenden überwältigenden Welt. Güvenç Dağüstün, Lou Strenger, Ömer Cem Çoltu und Talha Kaya sind höchst engagierte, emotional präsente und agile Darstellende für das keineswegs einfache Choreographie-Design von Beyhan Murphy und Mert Öztekin. Die Mitwirkenden erhielten viel Applaus und Anerkennung, auch vom koproduzierenden Goethe-Institut und der Istanbul Music Association.
Roland H. Dippel |