Berichte
Letzter Vorhang für Raritäten-Biotop
Nach 57 Jahren beendete der Verein Neuburger Kammeroper seine Tätigkeit
Werden es vielleicht doch noch mehr als 57 Neuburger Opernjahre? Am 3. Juli feierten Leitung, Ensemble und Gäste nach der Dernière der beiden Einakter „Le diable au moulin“ (Der Teufel von der Mühle, 1859) und „La Comédie à la Ville“ (So eine Komödie!) des belgischen Musiktheoretikers François Auguste Gevaert. Da klang das „Nein“ der Leitungsspitze Annette und Horst Vladar zum Weitermachen, das in einem Bericht der „Augsburger Allgemeine“ vom 4. August 2025 zu lesen war, zwar weniger bestimmt. Aber der Entschluss des Ehepaars steht aus Altersgründen vor allem wegen der aktuellen Förderungsbedingungen fest, die zu einer Reduktion des über 30-köpfigen Orchesters und dazu führen würden, dass die international gerühmte Neuburger Kammeroper unter Bedingungen eines freien Musiktheaters statt jeden Sommer nur noch alle zwei Jahre mit jeweils fünf Vorstellungen stattfinden könnte, was die Organisation von Chor, Orchester und die unverzichtbar freiwilligen Helfenden durch das Pausenintervall komplizierter machen würde.

François Auguste Gevaert, „Le diable au moulin“, Opera comique, von links mit Elisabeth Zeiler, Sarah-Léna Winterberg, Stephan Hönig, Gabriel Goebel, Karol Bettley. Foto: Neuburger Kammeroper
Mit zuletzt 60.000 Euro stemmte die Neuburger Kammeroper seit 1969 im Stadttheater jedes Jahr eine abendfüllende Oper oder zwei Einakter. Bevorzugte Genres waren heitere Werke des Entstehungszeitraums 1750 bis 1830, immer in deutscher Sprache. Manchmal holte man zur wohlbedachten Obergrenze des eigenen Potenzials aus, zum Beispiel mit Pietro Raimondis „Der Fächer“, einer prachtvollen Belcanto-Oper im Schatten Rossinis mit drei großen Tenorpartien, oder zur 50-Jahrfeier 2018 mit Heinrich Marschners „Der Bäbu“. Die Neuburger Kammeroper erreichte immer ihr Stamm- und Fachpublikum. Oberstes Prinzip waren verständliche Spielform und Unterhaltungswert. Was bei den knappen Orchesterproben an musikalischer Perfektion unmöglich war, machten Neugier und hohes persönliches Engagement reichlich wett.
Bei vielem, was im Zuge der Alte-Musik-Bewegung entdeckt wurde und heute von Raritäten-Institutionen wie Opera Rara und Bru Zane erschlossen wurde, war die Neuburger Kammeroper früher dran. Die imposante Produktionschronologie umfasst Komponisten wie Simon Mayr, Conradin Kreutzer, Louis Spohr, Manuel García, Niccolò Zingarelli, Luigi Ricci, Antonio Salieri, Florian Leopold Gassmann, François-André Danican Philidor und viele andere. In großer Kontinuität wurden die Aufführungen mit Dekorationen und Kostümen aus einem erst von Ulrich Hülsbeck und später Michele Lorenzini erweitertem Fundus ausgestattet. Die Loyalität der mitwirkenden Sängerinnen und Sänger war groß. Zum Beispiel machte der Dirigent Stefan Klingele in Neuburg erste Erfahrungen als Korrepetitor und waren die Sopranistin Ulrike Jöris und der Bariton Michael Hoffmann jahrelang Säulen des Ensembles. Das von Annette und Horst Vladar erstellte Aufführungsmaterial erschien mit eigenen Übersetzungen beim Verlag Heinrichshofen & Noetzel.
Die beiden jetzt gezeigten Opern von Gevaert waren ungewöhnlich, weil ihre Uraufführungsjahre aus dem Fokus der Neuburger Kammeroper herausfielen. „Le diable au moulin“ entstand für Paris 1859, „La Comédie à la Ville“ zehn Jahre früher für Gent. Mit Stephan Hönig hat der neben der Regie nochmals zwei kleine Partien übernehmende Horst Vladar einen idealen Nachfolger für das Väter-Fach gefunden. Der Tenor Karol Bettley lieferte sich mit dem Bariton Gabriel Goebel ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen um die Gunst des Publikums. Elisabeth Zeiler und Sarah-Léna Winterberg wetteiferten kollegial und eindrucksvoll in den wirkungsvollen Sopranpartien. Das Quintett klang in den Ensemblestellen gut zusammen, und alle Persönlichkeiten bedienten den nostalgischen Schmelz der Inszenierungen ebenso wie die Erwartung an eine ehrliche Darstellung der vormodernen Konflikte.
Wegen Erkrankung des langjährigen Dirigenten Alois Rottenaicher trat Georg Hermansdorfer ans Pult und führte die Mitglieder des Akademischen Orchesterverbandes München im Graben durch die nicht einfachen Partituren. Am Ende gab es langen Applaus. Für das Ehepaar Annette und Horst Vladar war die Kammeroper ein Lebenswerk – früher neben ihren Bühnenengagements, später im Ruhestand. Die von beiden jahrzehntelang gepflegte, fast anachronistische und liebevolle Form von Musiktheater hinterlässt nun eine spürbare Lücke.
Roland H. Dippel |