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Schwerpunkt: Freies Musiktheater
Spontan, unangepasst, utopisch
Das Musiktheaterkollektiv „Hauen und Stechen“
Von Isabel Herzfeld
Tagelang geht dieser Geruch nicht weg. Er klebt in den Haaren, in der Kleidung, begleitet durch die Stadt, stört in der U-Bahn, macht sich peinlich in der Philharmonie bemerkbar. Auch wenn er längst weggeduscht ist, ruft das Gedächtnis ihn zurück.
Kunstnebel dringt aus allen Poren des maroden Gemäuers, das die derzeitige Spielstätte des Musiktheaterkollektivs „Hauen und Stechen“ beherbergt, legt sich beißend auf Nase und Lungen, sticht in den Kopf.
Hämmernde Rhythmen in ohrenbetäubender Lautstärke, Lichtblitze, Schreie und Stöhnen zwischen Gesangsfetzen, die Nähe zu teils wenig bekleideten schwitzenden Körpern… all das schafft eine Intensität, die abstoßen oder Angst machen kann, die man abwehren möchte und die doch fasziniert.
Niemand von den vielleicht zwanzig zu dieser Performance zugelassenen Zuschauer:innen verlässt jedenfalls die Prozession; brav stapfen sie auf der schmalen Terrasse hinter den Schauspieler:innen her, durch Wasserlachen und Kunstblut.
Es gibt ja auch etwas zu sehen: Auf einem OP-Tisch liegt die Sängerin Angela Braun mit Hundemaske; dem Hund wird ein menschliches Kleinhirn eingepflanzt, zu den Gesängen aus dem Finale von Giuseppe Verdis „Aida“, wie eine Tonbandschleife endlos wiederholt. Vorher spielte die Tuba Motive aus Prokofjews „Peter und der Wolf“. Doch da saß man noch im Wartezimmer der chirurgischen Praxis.
Bälle in der Luft halten
„Hauen und Stechen“ ist eine Zumutung. Allein schon der Name! Was soll er überhaupt bedeuten? „Das bleibt ein Mythos“, sagt Regisseurin Julia Lwowski und lächelt. Immerhin erscheint als fast zu übersehender Fingerzeig ein kleines hübsches Beil auf der Website des Ensembles.

Hauen und Stechen. Foto: Thilo Moessner
KI erklärt mir, dass die Redewendung „Hauen und Stechen“ aus dem mittelalterlichen Turnierwesen stammt und einen erbitterten Kampf beschreibt, bei dem mit Hieb- und Stichwaffen gekämpft wurde. Irgendwo nimmt das Kollektiv dann doch Stellung: „Erbitterter Widerstand“ und „Verteidigung“ soll der Leidenschaft und dem Engagement eines Musiktheaters gelten, das grenz- und genreüberschreitend das klassische Repertoire von musealen oder privilegierten Interpretationen befreit und zu eigenen, wilden, unangepassten, utopischen Lesarten findet. Entscheidend ist, dass die Integrität von „Werken“ angetastet wird, sie werden zerpflückt, zerhackt und zu etwas Neuem umgeschmolzen. Die Musik wird mit anderen Musiken aus Klassik, Film, Rock oder Pop kombiniert oder auch einfach weiterkomponiert, von den beiden Komponisten Roman Lemberg und Max Murray oder auch vom ganzen Kollektiv. Filmsequenzen oder Videos, eigens gedrehte Schwarz-Weiß- oder Stummfilme – dafür ist Martin Mallon zuständig – bringen auf die zeitgenössische Spur. Dies im Verein mit einer assoziativen, in der Fülle der Anspielungen kaum vollständig wahrnehmbaren Sprache, mit spontanen, um „guten Geschmack“ unbekümmerten Aktionen, die zum Publikum durchlässig sind und es immer wieder einbeziehen. „Unsere Stücke leben einfach davon, dass wir sie spielen“, sagt Sopranistin Vera Maria Kremers, „wir bereiten natürlich die Premiere vor und bibbern davor bis zum Schluss, sind uns auch über vieles noch unsicher. Aber dann wird es lebendig dadurch, dass wir es spielen, dass das Publikum da ist und agiert und mitmacht. Da entsteht eine unglaubliche Energie. Vieles kann sich erst in den Vorstellungen richtig finden, wir merken dann auch, was funktioniert und was nicht. Viele spontane Aktionen sind dabei, wir sind sehr geübt darin, die Bälle in der Luft zu halten.“
Als „Lwowski-Kronfoth-Musiktheaterkollektiv“ wurde die Truppe von den Musiktheaterregisseurinnen Franziska Kronfoth und Julia Lwowski gegründet. Beide hatten an der Berliner Musikhochschule „Hanns Eisler“ studiert. Ab 2012 entstand eine künstlerische und strategische Zusammenarbeit mit dem Fotografen und Galeristen Thilo Moessner. In seiner Galerie, der „Galerina Steiner“ in Berlin-Schöneberg, präsentierte das Kollektiv die Performancereihe „Hauen und Stechen“, einen in kurzer Probenzeit erarbeiteten Inszenierungsparcours, der an einem Aufführungsabend von mehreren Publikumsgruppen gespielt wurde. Einflüsse aus Oper, Film, Theater wurden integriert und in den Stücken bewusst Zwischenräume für spontane Impulse der Darstellenden gelassen. „Im Keller dieser Galerie fing alles an“, erzählt die Bühnenbildnerin Yassu Yabara, „das war ein Kohlenkeller, so ein richtiger Berliner Keller, winzig, feucht und muffig. Die Decke war ganz niedrig, man hat sich dauernd den Kopf gestoßen und musste auch das Publikum ständig davor warnen. Man musste auch alles selbst machen, zum Beispiel Böden verlegen. Wir konnten ja niemanden bezahlen. Man hat es da unten nicht lange ausgehalten, ich weiß noch, wie ich versuchte, an der Decke Vorhänge aufzuhängen und drei Stunden lang mit dem Akku-Schrauber hantierte, da spürte ich sehr schnell meine Lungen. Es musste alles sehr schnell gehen, auch die Proben. So war alles recht zackig und energiegeladen, man musste 100 Prozent Energie geben. Es kam dann auch immer mehr Publikum, was bedeutete, dass wir mehrmals hintereinander spielen mussten, damit das auch alle Leute sehen konnten.“ Die extreme räumliche Nähe zum Publikum wurde zum darstellerischen Konzept und die Eigenarten der Spielstätte wurden in die Gestaltung der Bühne einbezogen. Das ist auch bei der eingangs beschriebenen Produktion „Hundeherz“ so, der eine Satire des russischen Schriftstellers Michail Bulgakow auf den von der Sowjetunion propagierten „neuen Menschen“ zugrunde liegt. Sie findet – mitten im sozialen Brennpunkt am Cottbusser Tor – im „West Germany“ statt, einer ausgedienten Zahnarztpraxis, die zum alternativen Veranstaltungsort umfunktioniert wurde. Winzige Räume und enge Flure, die langsam vor sich hin abblättern, provozieren gerade durch ihren Mangel die Fantasie, lassen sich vielseitig bespielen bis hin zum langgezogenen, vom Autolärm umtosten Balkon.
Befragung überkommener Stoffe
In einer selbstironischen „Opernkritik“ beschrieb die Truppe ihren Stil als „Schlingensiefiade, langfingrig zusammengeklaut“. Doch natürlich haben die 16 Mitglieder – viele von Anfang an dabei oder nach einigen Auslandsjahren zurückgekehrt – ihre eigene Handschrift entwickelt, in je individuell verschiedenen Gewichtungen. Was manche Kritiker als „klamaukhafte Überfrachtung“ empfanden, wird andernorts als kreative und zeitgemäß entschlackende Befragung überkommener Stoffe und Musiken auf ihren heute bewegenden Gehalt gelobt. Der Zustimmung des Publikums konnte man fast immer sicher sein. Einladungen größerer und großer Bühnen ließen nicht auf sich warten. So engagierte die Deutsche Oper Berlin das Regisseurinnen-Team Julia Lwowski und Franziska Kronfoth, Yassu Yabara (Bühne), Christina Schmitt (Kostüme) und Martin Mallon (Video) für „Nixon in China“ von John Adams. „An die großen Häuser wird meistens nicht das ganze Kollektiv eingeladen, sondern nur die künstlerische Leitung. Wir arbeiten dann mit dem dortigen Ensemble“, kommentiert Julia Lwowski.

Hauen und Stechen. Foto: Philipp Jester
Dafür konnte die Truppe die etablierte Produktion „Il Viaggio à Reims“ der Deutschen Oper „aus dem Hinterhalt“ in der alternativen Spielstätte Tischlerei kritisch beleuchten. Für NOperas! – die Förderinitiative für experimentelle Formen im zeitgenössischen Musiktheater des NRW KULTURsekretariats – entstand „Kitesh“ (nach Rimski-Korsakow), an der Roten Fabrik Zürich „Luft! Luft! Mir erstickt das Herz!“ nach Wagners „Tristan und Isolde“, zusammen mit dem inklusiven Theater Hora. Eine enge Zusammenarbeit verband „Hauen und Stechen“ mit den Berliner Sophiensälen, wo „Salomé – ein Totentanz“ gezeigt wurde, sowie mit der Neuköllner Oper, wo „Die Fledermaus“ großen Erfolg hatte – freizügig dargestellt „für Erwachsene“.
Wie mir auf dem Balkon des „West Germany“ etwa zehn Mitglieder von „Hauen und Stechen“ gegenübersitzen, entsteht der Eindruck eines Bilderbuch-Kollektivs. Die Stimmung ist harmonisch, freundlich, es wird viel gelacht. Aber „so basisdemokratisch sind wir gar nicht“, meint Dramaturgin Maria Buzhor. „Wir haben alle unsere Ausbildung, unsere Profession und unsere Aufgaben. Die Stückauswahl geht meistens von Regie und Bühne aus. Andererseits entsteht vieles im Gespräch, gerade in den Anfangsphasen. Manchmal kann das auch jahrelang dauern.“ „Ich bin zwar Regisseurin“, sagt Franziska Kronfoth, „aber das Besondere hier ist, dass Leute Musik machen können, die keine Musiker sind, und dass die Regisseurinnen manchmal auch mitperformen.“ „Hier gibt es keinen Zwang“, sagt Vera Maria Kremers. „Wenn ich etwas nicht singen will, singt es jemand anders oder es wird vielleicht transponiert. Ein unglaubliches Geschenk ist für mich, Opernrollen in anderem Kontext erarbeiten zu können, sie auf Alltägliches runterzubrechen.“ Natürlich gibt es auch Streit, vor allem um Konzepte und Auffassungen, und manchmal geht es „brachial“ zu. Aber gegenseitiger Respekt und Verbundenheit scheinen doch sehr ausgeprägt zu sein. Gina-Lisa Maiwald, als Schauspielerin schon mal in Fernsehserien wie bei „Notruf Hafenkante“ zu sehen, fühlt sich im Kollektiv ganz anders gesehen als in etablierten Institutionen: „Wenn Masha als Dramaturgin mir zuhört, wie ich über die Texte denke, oder Yassus Kostüm mich spielerisch auf neue Ideen bringt, dann zeigt das, wie man sich gegenseitig kennt und voneinander inspiriert ist. Ich kann es nicht besser sagen, es ist so ein Miteinander.“
Von der Hand in den Mund

Hauen und Stechen. Foto: Thilo Moessner
Natürlich müssen die einzelnen Mitglieder auch in anderen Konstellationen, an anderen Institutionen arbeiten, manchmal auch Taxi fahren. „Wir sind ein Pool von Freischaffenden, aber inhaltlich eben auch Verbündete und teils langjährige Weggefährten“, sagt Julia Lwowski. Maria Buzhor ergänzt: „Wir hangeln uns von Projekt zu Projekt und den entsprechenden Fördermöglichkeiten. Corona war ein totaler Einbruch, und bei den jetzigen drastischen Kürzungen weiß man noch gar nicht, wann es uns richtig erwischen wird. Diese freie Existenz ist schon eine Feuerprobe, vor allem finanziell, von der Hand in den Mund, und man braucht schon einen großen Idealismus für diese Form von Kunst. Für mich ist es überlebenswichtig, diese Künstlerfamilie zu haben, um überhaupt weitermachen zu können. Natürlich kämpft man um jeden Auftrag. Aber wenn man kein künstlerisches Rückgrat hat, keine Vision, dann hält man das auf Dauer nicht aus.“
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