Kulturpolitik
Auf ein Wort mit...
Die Berliner Senatorin für Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt Sarah Wedl-Wilson
Im Gespräch mit Rainer Nonnenmann und Gerrit Wedel
Als Nachfolgerin von Joe Chialo wurde Sarah Wedl-Wilson im Mai 2025 zur Berliner Senatorin für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt ernannt. 1969 nördlich von London in Watford geboren, lernte sie frühzeitig Violine, Klavier und Orgel, spielte im Streichquartett und als Konzertmeisterin in Jugend- und Laienorchestern. In Cambridge studierte sie Romanistik und Germanistik. Ein Auslandsstudienjahr verbrachte sie als Englischlehrerin an einem Gymnasium in Siegen. Ab 1991 arbeitete sie als Kulturmanagerin, unter anderem bei der Camerata Salzburg, als Leiterin des Betriebsbüros der Kölner Philharmonie und künstlerische Leiterin von Schloss Elmau. An der Seite von René Jacobs war sie zehn Jahre lang Geschäftsführerin der Innsbrucker Festwochen der Alten Musik. 2009 gründete sie ein eigenes Kulturberatungsunternehmen, das Kultur- und Unterrichtsprojekte initiiert, betreut und berät. 2014 wurde Wedl-Wilson Vizerektorin für Außenbeziehungen an der Universität Mozarteum Salzburg und 2019 Rektorin der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin. 2023 holte sie Senator Joe Chialo als Staatssekretärin für Kultur in die Berliner Senatsverwaltung. Zudem war Wedl-Wilson Vorsitzende des Aufsichtsrats der Osterfestspiele Salzburg und Mitglied des Stiftungsrats der Stiftung Oper in Berlin.
Oper & Tanz: Frau Wedl-Wilson, Sie waren bereits für verschiedene Kultureinrichtungen tätig. Seit Mai sind sie Berliner Senatorin für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wie unterscheiden Sie zwischen Kunst und Kultur?

Sarah Wedl-Wilson. Foto: Andreas Domma
Sarah Wedl-Wilson: Kultur ist der ganz große Bogen. Das beinhaltet auch Lebenskultur, Ökologie, Überlieferung von Geschichten und alles, was wir Menschen schaffen. Kunst dagegen ist das Spezifische, etwa die Bildende Kunst oder die Darstellenden Künste. Am Mozarteum hatte ich auch eine bildende Kunstabteilung zu betreuen und an der „Hanns Eisler“ gab es nur Instrumental-Ausbildung und keine Musikpädagogik. Kunst ist der Kern, die Essenz der Künstler:innen, deswegen sprechen wir auch nicht von „Kultur:innen“. Kultur aber ist das große Ganze, das uns als Menschen ausmacht.
O&T: Sehen Sie im gesellschaftlichen Zusammenhalt eher eine Aufgabe von Kunst und Kultur oder eine Wirkung davon?
Wedl-Wilson: In dieser Senatsverwaltung sind – um es nüchtern zu sagen – diese beiden „Geschäftsbereiche“ untergebracht. Dazu gehören auch bürgerschaftliches Engagement und die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Wir kümmern uns gegenwärtig sehr intensiv um den Schutz jüdischen Lebens in Berlin. Und Mitte Juni, beispielsweise, habe ich vor 300 Pfarrer:innen aus Berlin und Brandenburg gesprochen. Demnächst haben wir die Muslimische Kulturwoche. Beide Bereiche stehen erst einmal für sich. Aber es gibt auch Übergänge zur Kultur. Und natürlich ist es eine Aufgabe der Kultur, in die Gesellschaft hineinzuwirken und die Menschen dort abzuholen, wo sie sind. Das ist auch räumlich gemeint, weil die Berliner Bezirke so riesig sind und es mir ganz wichtig ist, dass wir in allen Ecken der Stadt Kultur anbieten. Deswegen unterstützen wir auch die bezirkliche Kultur. Ebenso wichtig sind der soziale und der seelische Aspekt. Es geht um Kultur in ihrer ganzen Breite, von der Hochkultur der exponierten Bühnen und der Berliner Philharmoniker bis zur Popkultur. Heute Abend bin ich bei der Eröffnung des Pop-Kultur-Festivals, morgen kommt die Club-Kommission zu mir, die Vertreter der sieben wichtigsten Berliner Clubs. Wir sind mit allen diesen Akteuren im Austausch. Unsere Aufgabe ist es, dass Kultur alle Menschen in dieser Stadt erreicht.
O&T: Viele der von ihnen benannten Einrichtungen sind Teil der Berliner Kulturkonferenz, aus der heraus die große Protestbewegung „Berlin ist Kultur“ gegen die beabsichtigten Kürzungen Ihres Amtsvorgängers erwachsen ist. Die genannte Infrastruktur, auch die bezirkliche, muss finanziert werden, und zugleich soll gespart werden. Wie geht das zusammen?
Wedl-Wilson: Um einen Haushalt aufzustellen, der die bestehenden Strukturen schützt und stärkt, braucht es echtes Handwerk. Wir haben am 22. Juli im Senat einen „Haushaltsentwurf“ beschlossen, das ist – ich muss das betonen – ein „Entwurf“. Dieser geht jetzt in den parlamentarischen Prozess. Das gilt auch für unser Kapitel, das von der gesamten Senatsverwaltung im Rahmen des von Kai Wegner angeregten Kulturdialogs und in engstem Austausch mit den Kulturschaffenden entstanden ist. Dafür braucht es viel Verständnis und Kommunikation mit den Kulturschaffenden, damit diese ihre Situation und Probleme schildern können. Deswegen war es mir wichtig, bei meinem ersten Termin nach der Vereidigung im Parlament hier in meinem Büro bei einer Online-Konferenz mit „Berlin ist Kultur“ zu sagen: Hallo Leute, ich bin hier! Was habt ihr für Fragen?
O&T: Das wurde sehr positiv aufgenommen, nachdem zuvor mit betroffenen Akteuren und Institutionen keine Gespräche gesucht und der Dialog schmerzlich vermisst wurde. Der Regierende Bürgermeister begründete damals Ihre Wahl zur neuen Berliner Kultursenatorin mit Qualitäten, an denen es Ihrem Vorgänger offenbar mangelte: „Wir brauchen jemanden, der zuhört, der im Gespräch mit den Kulturschaffenden ist. Denn natürlich stehen wir nicht nur, aber auch im Kulturbereich vor großen Herausforderungen.“ Da werden jetzt große Hoffnungen an Sie geknüpft.
Wedl-Wilson: Ich war 25 Jahre Kulturmanagerin und habe acht Jahre lang Hochschulen geleitet. Das Salzburger Mozarteum ist ein riesiges Schiff mit zweieinhalbtausend Menschen. Das war der größte Betrieb, den ich bisher geleitet habe und für mich ein ganz wichtiger Teil meiner eigenen Entwicklung und politischen Schulung, weil ich gelernt habe, wie man eine derartig große Gruppe an Personen erreicht, wertschätzend mit ihnen umgeht, mit ihnen Dinge bespricht, verhandelt, Fraktionen zusammenführt, Mehrheiten schafft, Veränderungen fortsetzt. Bei unserem jetzigen Finanzsenator, der eine rhetorisch unglaublich starke Person ist, sehe ich, dass man auch schwierige Botschaften – die von ihm erwarteten finanziellen Einsparungen – kommunizieren kann, wenn man das auf Augenhöhe macht und die Dinge miteinander bespricht und erklärt.
O&T: Die Finanzen sind das eine. Ein anderes Problem ist die fortschreitende Delegitimierung staatlicher und kommunaler Kulturförderung durch bestimmte politische Fraktionen und Wirtschaftsliberale. Wie stehen Sie zur Forderung „weniger Staat und mehr Wirtschaft“, die immer häufiger auch in Bezug auf Kunst und Kultur geäußert wird?

Die Senatorin beim Pfarrer- und Pfarrerinnentag der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz in der Berliner Parochialkirche mit Pröpstin Dr. Christina-Maria Bammel und Bischof Dr. Christian Stäblein. Foto: Matthias Kindler
Wedl-Wilson: Der Staat hat die Verantwortung. In Deutschland gilt das Grundgesetz, und wir verabreden bei Wahlen, wie wir zusammenleben wollen und was wir als Gesellschaft brauchen, ob das Kitaplätze sind oder Straßen, Brückenreparaturen, funktionierender ÖPNV. Und eine dieser Verabredungen ist die Kultur als Teil der deutschen Identität, der Kulturlandschaft und des Lebens in Deutschland. Der Staat hat die Aufgabe, mit den Steuergeldern dafür eine Basis zu schaffen. Wie weit diese Basis geht, ist eine Sache der jeweiligen wirtschaftlichen Situation und auch mit den verschiedenen Institutionen zu verabreden. Mir ist wichtig, dass die Leitungen der Kulturinstitutionen auch unternehmerisches Denken in ihrem Handeln haben. Weil der Staat nicht alles finanzieren kann, auch wenn er früher mehr finanziert hat. Deswegen gibt es in Berlin schon seit vielen Jahren Kooperationen mit internationalen Unternehmen: Chanel unterstützt jetzt die Berlin Art Week, Mercedes und Audi haben Kulturinstitutionen unterstützt. Aber es ist die essentielle Aufgabe des Staats, die Basis bereitzustellen, damit die Theater ihre Türen für das Publikum öffnen können. Darunter verstehe ich Personal-, Miet-, Heiz- und Betriebskosten, auch den Ausgleich erhöhter Tarifabschlüsse, weil es keinen Sponsor auf der Welt gibt, der das übernimmt. 2025 wurde die Tariferhöhung bestenfalls zu 93 Prozent gedeckt, das Auffüllen hat die Institutionen viele tausende Euro und Abzüge von ihren künstlerischen Etats gekostet. Jetzt konnte ich im Entwurf zum Doppelhaushalt durchsetzen, dass wieder 100 Prozent der Tarifsteigerungen vom Land Berlin getragen werden. Mein Team und ich haben das Budget für 2026/27 aufgestellt mit dem Ziel, die Institutionen zu stabilisieren und möglichst wenig an der künstlerischen Produktion zu sparen. Aber wir fordern auch, dass effizienter gearbeitet wird.
O&T: Aus Gründen von Effizienz und Kostenersparnis lassen sie gegenwärtig Möglichkeiten prüfen, für alle Berliner Theater- und Opernhäuser einen gemeinsamen Ticketing-Dienstleister zu beschäftigen. Das klingt plausibel. Postwendend kamen jedoch Vermutungen, eine solche Zusammenlegung könnte die Vorstufe weiterer Fusionen sein, etwa von Staatsoper und Deutscher Oper oder von Orchestern, Intendanzen, GMD-Posten. Was sagen Sie dazu?
Wedl-Wilson: Manchmal denke ich, es muss sehr schön sein in der Opposition, wo man rausschießt, was einem gerade einfällt. Ich bin jedoch lieber in der Verantwortung, um mit Fachwissen und Handwerk eine schwierige Situation zu verbessern, Dinge langfristig zu gestalten und bei Veränderungen mit allen Beteiligten gemeinsam nach Verbesserungen zu suchen. Beim Ticketing muss man meines Erachtens kein eigenes Berliner System aufbauen, weil es bereits mehrere sehr gute und EDV-stabile Anbieter gibt. Mit diesen haben die verschiedenen Kultureinrichtungen bisher aber alle einzeln verhandelt und dabei sehr verschiedene Konditionen erhalten. Was wir brauchen ist eine stabile, gemeinsame Plattform zu insgesamt besseren Konditionen für das Land Berlin.
O&T: Darüber hinaus gibt es bei sehr arbeits- und personalintensiven Einrichtungen wie den Theatern jedoch wenig weitere Einsparmöglichkeiten durch Effizienzsteigerung oder Automatisierung. Schon in den vergangenen 20 Jahren wurde viel eingespart und die Auslastung gesteigert, so dass inzwischen weniger Menschen mehr arbeiten.
Wedl-Wilson: Allein der Friedrichstadt-Palast hat im letzten Jahr durch flexible Preisgestaltung in der EDV 2,5 Millionen Euro mehr eingenommen. Wo alle Berliner Kultureinrichtungen Mehreinnahmen generieren und wieviel sie einsparen können, wird uns eine in Auftrag gegebene Studie zeigen. In München gibt es ein einheitliches Ticketing; und Mitte der 1990er Jahre war ich im Künstlerischen Betriebsbüro (KBB) der Kölner Philharmonie, als dort das Kölnticket eingeführt wurde.
O&T: In welchem Verhältnis sehen Sie die Finanzierung der Berliner Kulturinstitutionen und der freien Szene von Musik, Theater, Tanz?
Wedl-Wilson: Wir haben in unserem Budgetentwurf die komplette Übernahme der Tariferhöhung an den Institutionen und wir haben die Honoraruntergrenzen für die freie Szene. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, denn wir wollen die Gleichbehandlung der Szene und werden dafür einige Millionen zur Verfügung stellen.
O&T: Das bedeutet eine Selbstverpflichtung, nur diejenigen zu fördern, die auch diese Mindesthonorare zusichern. Es war ein langer Prozess, um prekäre Arbeitsbedingungen nicht öffentlich zu unterstützen. Das hat aber auch den Effekt, dass diejenigen Projekte, die gefördert werden, fortan zwar auskömmlich finanziert sind, insgesamt aber weniger Ensembles und Initiativen gefördert werden können.

Die Grand Show FALLING | IN LOVE des Friedrichstadt-Palasts erreichte mit 900.000 Gästen einen neuen Besucherrekord in der über 100-jährigen Geschichte des Hauses.
Foto: Friedrichstadt-Palast/Nady El-Tounsy
Wedl-Wilson: Im letzten Haushalt wurden die Mittel beschnitten. In unserem jetzigen Haushaltsentwurf halten wir den Etat für die freie Szene auf dem bisherigen Niveau. Ich habe aber nicht das Geld, diese Mittel aufzustocken. Man sagt, die Künstler werden deswegen aus Berlin wegziehen. Doch im Gegenteil haben wir eine wachsende Szene. Ein Artikel in der englischen Wochenzeitung „The Guardian Observer“ vom 3. November 2024 handelte vom Club-Sterben in Amsterdam und davon, dass junge Kunstschaffende nach dem Studium die Stadt verlassen. Und da steht: „Artists move out to Berlin“, Berlin ist nach wie vor ein Sehnsuchtsort für die Künstler. Das ist toll. Aber mit dieser wachsenden Landschaft wachsen auch die Erwartungen bei einem gleichzeitig schrumpfenden Budget. Mein Vorvorgänger Klaus Lederer hatte im Laufe seiner Amtszeit wachsende Budgets erreicht und vieles unterstützt. Bis 2019 stiegen die Etats. Damals hatten wir aber noch keine Corona-Hilfen, keinen Ukrainekrieg, keine gestiegenen Energiekosten, keine schwächelnde Wirtschaft. Heute können wir uns steigende Etats nicht mehr leisten. Unser Entwurf sieht für die Institutionen daher eine Einsparquote von drei Prozent vor, was die meisten auch schaffen. Damit erhalten wir den Status quo, können jedoch nicht weiter ausbauen und mehr Geld in die freie Szene geben. Das tut weh. Aber wir stabilisieren die momentane Situation, und ich hoffe auf bessere Zeiten mit wieder wachsenden Budgets.
O&T: Statistisch gesehen gehen inzwischen nur noch etwa 30 Prozent der Absolvent:innen von Musikhochschulen in Orchester, Chöre und Opernhäuser mit Festanstellungen, 70 Prozent dagegen in die Freiberuflichkeit. Da verschiebt sich etwas, nicht jedoch in der Finanzierung.
Wedl-Wilson: Das Mozarteum ist ein absolutes „Hothouse“, bildet aber auch in der Breite aus, und die Hochschule Hanns Eisler ist von den 24 Musikhochschulen in Deutschland das Spitzeninstitut bei der künstlerischen Ausbildung ausschließlich für die Bühne ohne Musikpädagogik. Der erste Wunsch von vielen Absolventen ist es, künstlerisch frei und kreativ zu sein und nicht unbedingt eine feste Stelle zu bekommen. Andere dagegen wollen genau das und bekommen oft auch schon während ihres Studiums eine Orchesterstelle. Viele sind in den Orchesterakademien, die alle unsere Berliner Orchester haben. Damit schaffen wir den Übergang in das Berufsleben für diejenigen, die diesen Weg einschlagen wollen. Manche machen das erst später, wenn sie Familie und Kinder haben und merken, dass ein fixes Einkommen gut wäre. Ich bin nach wie vor Präsidentin des Gustav Mahler Jugendorchesters. Mir ist das sehr wichtig, weil auch das ein Scharnier ist zwischen der Ausbildung an den Hochschulen und dem Einstieg in die Crème de la Crème der Toporchester. Was den Werdegang von Hochschulstudierenden betrifft, müsste man also einen etwas längeren Zeitraum von vielleicht zehn oder fünfzehn Jahren nach dem Studienabschluss anschauen, also das, was Musiker:innen im Alter zwischen 23 und 38 machen.
O&T: Die gesangliche Ausbildung an Hochschulen ist stark auf Sologesang ausgerichtet, weshalb viele Sänger:innen zunächst die Solokarriere suchen und erst später in Chöre gehen, weil sie die künstlerische Arbeit in einem exzellenten Kollektiv schätzen, dort künstlerische Erfüllung finden und die damit verbundene berufliche Sicherheit.
Wedl-Wilson: Wir haben deswegen an der Eisler mit Justin Doyle zusammengearbeitet, dem Chefdirigenten und Künstlerischen Leiter des RIAS Kammerchors Berlin, den wir einige Jahre als Gastprofessor für Chordirigieren hatten. Dabei gab es auch viele Projekte unserer Gesangsstudierenden mit dem RIAS Kammerchor. Ich bin immer ganz stolz, wenn ich „meine“ Hanns-Eisler-Geangsabsolvent:innen im Rundfunkchor oder im Chor der Deutschen Oper sehe, die da sehr glücklich sind und auch Soloauftritte bekommen.
O&T: Sind Musikschaffende während der letzten 30 Jahre flexibler geworden, so dass sie heute häufiger zwischen Festanstellungen und freiberuflicher Tätigkeit wechseln?
Wedl-Wilson: Ich glaube das war schon immer so. Aber vielleicht sind wir uns dessen bewusster geworden. Meine Mutter ist freiberufliche Klarinettistin, und ich habe in der sehr reichen Londoner Musikszene gesehen, was es da alles gibt.
O&T: Wir führen in der Rubrik „Auf ein Wort mit…“ zuweilen Gespräche mit Intendant:innen darüber, wie sich die Häuser für die zunehmend diverse und migrantisch geprägte Gesellschaft und die freie Szene der jeweiligen Kommune und Region öffnen. Sind die Häuser durchlässig und kooperationsbereit?
Wedl-Wilson: Wir haben Zielvereinbarungen mit unseren Intendant:innen über quantitative und wirtschaftliche Ziele. Unter den künstlerischen Zielen sind auch Vorgaben für soundso viele Produktionen mit Ensembles der freien Szene, was die meisten Häuser sowieso machen, vor allem das HAU. Unter meiner Amtsleitung haben wir auch einen Qualitätsdialog mit den Leitungen unserer Häuser eingeführt, mit denen ich immer darüber im Gespräch bin, was deren gesellschaftliche Verantwortung ist. Denn wir finanzieren alles mit Steuergeldern, die auch wieder bei den Menschen ankommen müssen, die sie durch ihre Arbeit erwirtschaften.
O&T: Wie stehen Sie zur Verankerung von Kultur als Staatsziel und wie kann die Initiative für ein Berliner Kulturfördergesetz dabei unterstützend sein?
Wedl-Wilson: Kultur ist essentiell wichtig. Ich stelle aber die Frage, ob uns im letzten Jahr ein Kulturfördergesetz geholfen hätte, die radikalen Kürzungen abzuwenden. Die Initiative ist dennoch wichtig, und wir fördern auch diesen Entstehungsprozess. Was es sicher nicht geben wird, ist ein Kulturfördergesetz, das mit konkreten Zahlen hinterlegt ist, weil die Gelder, die dem Staatshaushalt zur Verfügung stehen, schwanken. Und weil sie momentan sehr stark schwanken, arbeite ich an einer Kultur-Agenda 2035. Das ist ein Resultat aus dem Kulturdialog, den der Regierende Bürgermeister im Dezember 2024 im Parlament vorgeschlagen hat. Inzwischen gab es drei Gespräche mit Vertretern unserer Institutionen und der freien Szene. Dieser Dialog wird weiter fortgesetzt werden. Er hat großes Verständnis füreinander geweckt, und ich schätze es sehr, dass der Regierende Bürgermeister dafür so viel Zeit und der Kultur in seinem Amtsverständnis einen so wichtigen Platz zugemessen hat. Zentral sind drei Fragen: Wie schaffen wir kurzfristig den Haushalt? Wie können wir uns mittelfristig besser und effizienter aufstellen? Und schließlich: Was für eine Kulturlandschaft wollen wir in Berlin? Und diese langfristige Perspektive kann nur parteiübergreifend entwickelt werden, weil sich durch Wahlen die Konstellationen und Personen verändern. Mit Hilfe meiner Mitarbeiterinnen versuche ich dieses parteiübergreifende Gespräch gerade auf den Weg zu bringen.
O&T: In Artikel 5 des Grundgesetzes heißt es: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Zugleich erhebt die Kulturpolitik Ansprüche: Kunst soll alle in der Gesellschaft erreichen, Zusammenhalt stiften, für Gendergerechtigkeit sorgen, die Demokratie stärken, divers, inklusiv, nachhaltig sein. Wie balancieren Sie das aus?
Wedl-Wilson: Letztlich geht es um gesellschaftliche Verantwortung, über die wir vorhin schon gesprochen haben. Jeder in einer Gesellschaft muss sich mit seinen Bedarfen wiederfinden. Wir haben einen Kunstanspruch und eine wirtschaftliche Verantwortung. Die Wirtschaftsleistung der Berliner Kultur beträgt ein Vielfaches dessen, was sie kostet. Und die Berliner Kultur hat eine weltweite Ausstrahlung, weshalb über die Kulturkürzungen in Berlin auch weltweit geschrieben wurde. Es gab dazu Artikel in vielen internationalen Zeitungen. Die wenigsten haben aber geschrieben, dass wir in Berlin ein unfassbar hohes Budget für Kultur hatten, das jetzt gekürzt ist, aber immer noch sehr viel höher ist als in anderen Städten. Allein wenn ich das mit dem vergleiche, was in meinem Geburtsland Großbritannien für Kultur zur Verfügung steht. Berlin hat eine Kultur- und Wissenschaftslandschaft, um die wir weltweit beneidet werden. Die muss erhalten und gefördert werden.
O&T: Der Themenschwerpunkt des aktuellen Hefts „Oper und Tanz“ widmet sich freien Musiktheaterkollektiven. Die Berliner Szene hat hier sehr viel zu bieten, zahlreiche Ensembles und die Biennale BAM!, das im November zum dritten Mal stattfindet. Dieses Festival ist ein wichtiges Forum für freiberufliche Musiktheaterkollektive und deren nationale und internationale Vernetzung, das einen Impuls zur Gründung des deutschlandweiten Netzwerks Freies Musiktheater gegeben hat. Wird diese Struktur genügend gefördert?
Wedl-Wilson: Es ist toll, dass es in Berlin solche Initiativen in Hülle und Fülle gibt, gerade auch solche, die über Berlin hinaus eine Bedeutung haben und sowohl durch das Land Berlin als auch durch Projektförderungen des Hauptstadtkulturfonds unterstützt werden.
O&T: Haben Sie vielen Dank für dieses Gespräch. |