Berichte
Erschütternde Groteske
„Musik für die Lebenden“ von Gija Kantscheli in Bonn
Schon oft wurde die Reihe „Fokus ’33“ des Theaters Bonn hochgelobt. Hier wird eine Repertoireperle nach der anderen ausgegraben, „Leonore 40/45“ von Rolf Liebermann etwa oder „Li-Tai-Pe“ von Clemens von Franckenstein. Jüngste Frucht dieser Reihe ist „Musik für die Lebenden“, die einzige Oper des georgischen Komponisten Gija Kantscheli. Die Frage, ob diese zutiefst erschütternde Groteske überhaupt eine Oper ist, wird im sehr gehaltvollen Programmbuch mit ja beantwortet und auch nach dem Besuch einer Vorstellung kann man zu diesem Schluss kommen. Das Stück hat viel Drama, packende Musik und ein Finale, das mit seiner emotionalen Intensität jede noch so abgeschmackt inszenierte Hollywood-Schmonzette locker in den Schatten stellt.

Kinder- und Jugendchor des Theater Bonn, Tänzerinnen und Tänzer, Manon Greiner, Foto: Bettina Stöß
Nach der weithin unbeachteten Uraufführung 1984 in Tiflis wurde das Stück vergessen und auch nach der Wiederaufführung 1999 in Weimar nicht mehr gespielt. In Bonn wurde es nun von Maxim Didenko auf die Bühne gebracht, der starke, symbolhafte Bilder findet, um die Quintessenz des zutiefst bewegenden Abends in Szene zu setzen. Daran haben auch das kontrastreiche Bühnenbild und ebensolche Kostüme von Galya Solodovnikova einen entscheidenden Anteil. Wie Kantschelis Musik schwanken die Bilder zwischen den Extremen einer von Zerstörung und Trostlosigkeit geprägten Welt und einer hoffnungsvollen Aufbruchsstimmung, die in manch gänsehauttauglichem Bild gipfelt. Wenn beispielsweise zu Beginn Bomben einschlagen und alles danieder liegt, ist Kantschelis Musik dem Verstummen nah und besteht nur aus wenigen sparsam applizierten Tönen, kurzen Seufzern und heftigsten Krachattacken. Die Protagonisten stammeln eher, als dass sie singen, und das auch noch auf Sumerisch, einer längst ausgestorbenen Sprache. Dennoch ist der Symbolgehalt dieser Szene unverkennbar, etwa dadurch, dass die nachgerade bizarr gezeichneten Bösewichte stumm bleiben.
Gleiches trägt sich unter umgekehrten Vorzeichen am Ende zu. Da erobert die Natur die zerstörte Umwelt zurück, und neues Licht kommt in die Welt, getragen von Kindern als Symbol für Unschuld und Neubeginn. Kinder haben überhaupt eine eminent wichtige Rolle in Kantschelis Oper. Der von Ekaterina Klewitz einstudierte Kinder- und Jugendchor füllt diese ganz wunderbar aus, szenisch ebenso wie musikalisch. Auch einige Solistinnen kommen aus dem Chor: Valérie Ironside und Clélia Oemus singen ausgezeichnet und ihre Rollen charakterisierend. Gerade Ironside sorgt zusammen mit Ralf Rachbauer als altem blinden Mann für berührende Momente.
Mitten in der Kriegsszenerie spielen sich skurrile Szenen und gar eine Oper in der Oper ab. Im ersten Akt wird in Comic-Ästhetik mit dazu passenden Video-Einspielungen von Oleg Mikhailov die Geschichte einer Hasenfamilie als Parabel über Recht und Rache erzählt. Der zweite Akt ist eine völlig überdrehte, aber durchaus humorige Verismo-Parodie mit abstrus überzeichnetem Clash der Stile und Kulturen in Musik und Handlung. Auf den ersten Blick kommt zusammen, was nicht zusammengehört, doch ist hier das Kontrastieren scheinbar unvereinbarer Gegensätze das Prinzip von Kantschelis oft wie aus dem Baukasten collagierter Musik und von Didenkos außerordentlich bildstarker Inszenierung.
Das Ergebnis ist atemberaubend und könnte aktueller kaum sein. In einer scheinbar aus den Fugen geratenen Zeit erscheint „Musik für die Lebenden“ mit zutiefst hoffnungsvoller Botschaft als die richtige Oper zur richtigen Zeit. Daran hat die musikalische Gestaltung einen guten Anteil, allen voran das Beethoven Orchester Bonn, das unter Leitung von Daniel Johannes Mayr nachdrücklich und emphatisch mit glutvoller Intensität spielt. Der Dirigent hat im Übrigen auch einen kurzen szenischen Part, den er nicht minder souverän gestaltet. Der von André Kellinghaus einstudierte Chor des Theaters Bonn ist wie immer eine sichere Bank und auch das Ensemble, allen voran Tae Hwan Yun, Tianji Lin, Katerina von Bennigsen, Ava Gesell und Giorgos Kanaris, die die Oper in der Oper skurril und ergreifend spielen, machen den Abend zu einem echten Ereignis.
Guido Krawinkel |