Schwerpunkt: Freies Musiktheater
Das Experiment als Impuls
NOperas! und zwanzig Jahre Experimentelles Musiktheater
Von Christian Esch
Fonds Experimentelles Musiktheater (feXm) – unter diesem Titel startete vor zwanzig Jahren eine Förderlinie des NRW KULTURsekretariats (NRWKS), deren etwas sperriger Titel sich dem Gegenüber „Fonds Neues Musiktheater“ verdankte. Mit diesem bereits länger bestehenden Förderinstrument wurden – und werden bis heute – Kompositionsaufträge und Produktionen neuen Musiktheaters in NRW angeregt und vor allem gefördert.
Was zeitgenössisches Musiktheater betraf, ließ die Antragslage des „Fonds Neues Musiktheater“ bereits Anfang der 2000er-Jahre zu wünschen übrig: Nicht die Zahl der Anträge ging zurück, aber immer seltener wurden Produktionen mit neuer Musik („neu“ mit kleinem n) beantragt, allzumal im Großen Haus mit Orchester und Ensemble. Wegen der immer schwierigeren Finanzlage der Häuser galt es, die Förderkriterien betreffend „neu“ zu erweitern und so den Gegebenheiten wenigstens teilweise anzupassen.

„Kitesh“ von Hauen und Stechen, Theater Bremen. Foto: Jörg Landsberg
Wo aber blieben die Uraufführungen, das besondere künstlerische, musikalische Risiko und also die Zeitgenossenschaft eines Musiktheaters mit tatsächlich neuen Kompositionen und aktuellen Inhalten? Nicht zuletzt diesem Rückgang zu begegnen und sich gleichzeitig mit dem offensichtlichen Veränderungsbedarf bei den Mechanismen und Strukturen des Theaterbetriebs auseinanderzusetzen, war ein Ziel, konkret mit der Fragestellung, wie das Produzieren im Opernbetrieb offener für den Prozess gestaltet werden kann: Sind doch die Bedingungen des Apparates mit seinem Ineinandergreifen von Disposition, Dienstplänen und Klangkörpern oder von Verwaltung und Gewerken komplex und oft genug hinderlich, ganz abgesehen von den hierarchischen Strukturen und den damit verbundenen Befindlichkeiten. Außer auf künstlerisch-ästhetische Ziele richtete sich der neue feXm auf die Potenziale der Zusammenarbeit von traditionell aufgestellten, institutionellen Theaterhäusern mit jener sogenannten Freien Szene, die weniger mit strukturellen, umso mehr aber mit finanziellen Einschränkungen des Produzierens konfrontiert ist. Auch an diesem Punkt der Förderung der Freien Szene sollte angesetzt werden. Auf diesen neuen Wegen ging es schnell voran, war doch bald ein kenntnisreicher und gleichgesinnter Verantwortlicher in der Kunststiftung NRW gefunden. Und so konnte dieses Programm für die Befragung und Entwicklung der Ästhetik des Musiktheaters und seiner Produktionsbedingungen mit der ersten, an die freie Szene gerichteten, Ausschreibung für Uraufführungen an kommunalen Theatern in NRW an den Start gehen, im Rahmen einer langfristig angelegten Kooperation mit der Kunststiftung NRW.
Prozessorientierung
Über die Jahre gab es wegen mangelnder Kapazitäten an den NRW-Häusern nach zunächst zwei jährlichen Ausschreibungen bald nur noch ein Bewerbungsverfahren pro Spielzeit. Wenig später wuchs der feXm über NRW hinaus und wurde so der Impuls für die bundesländerübergreifende Reihe NOperas!, seit 2023 in der alleinigen Trägerschaft des NRWKS. Unverändert blieben die Leitgedanken, auf der Grundlage der Kooperation auf gleich mehreren Ebenen: Sowohl verbinden sich freie Gruppen mit den Häusern als auch mehrere Theater untereinander sowie mit dem Träger NRWKS, der als Zweckverband der großen und theatertragenden Städte Nordrhein-Westfalens seit mehr als fünfzig Jahren selbst ein Kooperationsmodell ist.
Worum es geht: Wesentlich ist die Konzentration auf den Prozess und die Entwicklung, statt in allererster Linie auf das gesicherte Produkt in Form der Premieren. So lassen sich die agilen Produktionen transformieren, indem sie mithilfe der Kooperation mehrerer Häuser ortsspezifisch ausgerichtet werden, etwa auf die unterschiedlichen künstlerischen Besetzungsangebote und die jeweiligen theaterspezifischen Ressourcen. Oft mit Bezug auf stadtgesellschaftliche Themen werden unweigerlich die lokalen Produktionsbedingungen daraufhin befragt, wie sie sich, im Dialog von institutionell und frei, flexibler hier und verbindlicher da, gestalten lassen. Solche Prozessorientierung ermöglicht künstlerische, aber auch ökologische, weil ressourcenschonende Nachhaltigkeit. Wie es sich für erfolgsorientierte Experimente gehört, müssen die Parameter klar und funktional definiert sein, so dass das Gelingen oder auch das Scheitern unter jedenfalls adäquaten und nachvollziehbaren Voraussetzungen erfolgt, auch um damit Lehren für die kommenden Ausschreibungen zu ermöglichen.
Experimentelles Kooperieren
Wenig überraschend haben zahlreiche Kooperationen auf unterschiedliche Weise gelehrt, dass in der Kooperation von fest und frei so mancher Hase im vielfarbigen Pfeffer liegt. Eine besondere Pikanterie bestand anfänglich in der Unklarheit der Erwartungen sowohl seitens der Teams als auch der Häuser. Von Anfang an zu den Kennzeichen des Auswahlverfahrens gehörte das bewährte zweistufige Juryverfahren.
Nach der ersten Runde nehmen die vorausgewählten Künstlerinnen und Künstler Kontakt mit den beteiligten Häusern auf, um dann in der zweiten Jury-Runde in ausführlichen Jury-Gesprächen die Erkenntnisse auszutauschen und die Machbarkeit ins Verhältnis zu den künstlerischen Zielen zu setzen. Seit längerem hinzu kommen bereits in der Ausschreibung Hinweise zu den Angeboten der Häuser betreffend Besetzung, Ausstattung und mehr. Auf der anderen Seite wird von der „freien“ Seite die Benennung einer kompetenten Produktionsleitung erwartet. Spätestens wenn dann die Auswahl getroffen ist, werden von den Häusern die zuständigen Dramaturginnen oder Dramaturgen benannt, die gemeinsam mit dem Dramaturgen des feXm das Gespräch mit den freien Gruppen suchen, um Zuständigkeiten, Abläufe, Bedarfe, Orte und Termine zu planen und andere interne Bedingungen zu vermitteln.
Zur Erschwernis solcher Bedingungen und damit der Verankerung im Haus trägt das wiederkehrende Missverständnis bei, den freien, mit institutionellen Bedingungen wenig vertrauten Teams junge, kaum erprobte Dramaturginnen oder Dramaturgen an die Seite zu stellen, wo doch gerade im Kontext des Experimentellen die Bestellung einer erfahrenen Dramaturgie mit gutem Standing am Haus besonders wichtig ist. Die wohl wichtigste Währung beim experimentellen Kooperieren ist das Vertrauen. Dazu muss natürlich ebenso die andere, freie Seite der Produktionsgemeinschaft ihren Teil beitragen, durch Verlässlichkeit, Professionalität und ein Verständnis für die Voraussetzungen am Haus. Wie frühzeitig oder eben doch sehr spät das spielfertige Notenmaterial vorliegt, wie geeignet die komponierten Gesangsstimmen für die vorgesehene Besetzung sind, welche Aufgaben dem Chor übertragen werden, das sind nur einige der Fragen, deren Beantwortung für verlässliche Abläufe wesentlich sind.

Oblivia/Yiran Zhao, „Obsessions“ am Theater Bremen. Foto: Jörg Landsberg
Transparenz und Kommunikation, am jeweiligen Haus wie seitens der externen Produktionspartner, sind Essentials gerade von experimentellen Kooperationen. Schnell treten im Zusammenspiel Verwerfungen durch schwierige interne Hierarchien auf, unter Umständen gepaart mit mangelnder kommunikativer oder gar sozialer Kompetenz auf der Leitungsebene. Die Folgen für die künstlerische Arbeit werden greifbar, etwa wenn die gerade für ein weniger erfahrenes Kollektiv essentielle Hauptprobe kurzerhand für verzichtbar erklärt wird.
Fest und Frei
In jedem Falle hängt viel von der erfolgreichen Gratwanderung ab zwischen partnerschaftlicher Flexibilität und dem Beharren auf eigenen Wegen, wenn dies geboten ist. So stehen sich manchmal bereits bei der Terminierung der Probentermine die Zwänge der Disposition und die terminlichen Zwänge freier Gruppen gegenüber, die nicht auf anderweitige Verpflichtungen verzichten können und wollen. Die Festigung des Freien hier und die Lockerung des Festen dort – auf diese simple Formel lässt sich bringen, was erforderlich ist, um erfolgreich ästhetische Optionen vor Ort zu behaupten, um sie bei der Weiterentwicklung am nächsten Haus aufgreifen und verändern zu können, wo auf wieder andere Voraussetzungen einzugehen ist, mit Blick auf Bühne, Besetzung, Ressourcen und lokalspezifische inhaltliche Varianten.
Die Fallstricke der Zusammenarbeit von Musiktheater- oder auch Schauspielhäusern mit den freien Teams sind ebenso vielfältig wie die Möglichkeiten, auf den langjährigen Erfahrungen von zwanzig Spielzeiten aufzubauen. Von der Ausschreibung über den Auswahlprozess, von der Planung bis zu den Etappen der Realisierung gilt es, Gelingensbedingungen zu entwickeln, insbesondere wenn es um einen längerfristigen Prozess der nachhaltigen künstlerischen Arbeit mit zwei bis drei Partner-Häusern geht. Im besten Fall profitieren dabei alle, die Kunst, die Teams und die Häuser und: das Publikum.
Adressierung des Publikums
Tatsächlich zählt die Erweiterung des Publikums zu den vorrangigen Zielen von NOperas! Die gezielte Ansprache von Zielgruppen steht manchmal zu wenig im Mittelpunkt der Arbeiten, hinsichtlich der produktionsspezifischen Aktivitäten sowohl der Häuser als auch der Teams. Aber auch seitens des Trägers sind der Einsatz von Social-Media und anderer Kommunikationsmittel ausbaufähig.
Ob das Kollektiv „Dritte Degeneration Ost“ wiedervereinigungskritisch das Thema „Punk in der DDR“ auf die Bühne bringt oder ob das Ensemble „Oblivia“ Improvisation und Bewegungstheater ins Zentrum stellt; ob die Stadt zum Spielort und Jugendliche aus besonderen Stadtteilen zu Akteuren werden, oder ob, wie bei „Everything is flux“ ein Schauspielhaus beteiligt ist; und unabhängig davon, ob es um die Bühne oder um andere Spielorte, indoor oder outdoor, geht: In jedem Fall muss das Publikum nicht nur durch themenspezifische Kommunikation adressiert, sondern – ebenso wichtig – möglichst früh auch interaktiv oder partizipativ einbezogen werden. Denn noch immer wird in der Theaterarbeit die einbeziehende Adressierung des Publikums zu wenig als konstitutiver Bestandteil der Produktion beziehungsweise als erhebliches Potenzial für zeitgemäße Theaterarbeit gesehen. Besonders ungünstig: Nicht selten scheitert die Öffnung zu den Publika schon an der Disposition, wenn etwa bei der Terminierung der leider wenigen Vorstellungen zu wenig Zeit zwischen der Premiere und den Folgevorstellungen gelassen wird.
Für das gelegentlich in Routinen gefangene Musiktheater sind ungewohnte Inhalte und Perspektiven, sind musikalische und theatrale Ideen jenseits der üblichen Spielpläne Verjüngungskuren, die einen wichtigen Beitrag dazu leisten, intern althergebrachte Abläufe und manche Hierarchien zu befragen, aber eben auch mit relevanten Themen und neuen Formaten ein anderes Publikum zu erreichen.
Was erwartet das Publikum in der Zukunft? Während schon die Ausschreibung für die 25. feXm- beziehungsweise NOperas!-Produktion läuft, entwickelt Nico Sauer für die Spielzeit 2025/26 „Die Kantine“: ein musiktheatrales Quid-pro-Quo der Gewerke und Zuständigkeiten am Theater. Selbstverständnisse und Aufgaben im Betrieb werden aufgegriffen und umgedeutet und in ein anderes Verhältnis zueinander gesetzt. Auch diese Arbeit wird wieder Anlass genug bieten, nach den allgemeinen Potenzialen, Herausforderungen (vulgo Problemen) und Veränderungsmöglichkeiten beim Produzieren am Stadt- und Staatstheater zu fragen, aber auch den Theaterinteressierten in Münster und Darmstadt ein spannendes und vielfältig kommuniziertes Erlebnis zu vermitteln.
Sofern sie intensiv begleitet, als Spielplanposition ernst genommen werden, dabei ausreichend ausgestattet sind und im gegenseitigen Vertrauen der Kooperationspartner entstehen, können viele Experimente des feXm mit ihrer Hinwendung von der Produkt- zur Prozessorientierung unverzichtbare Impulse geben für lebendiges, neues Musiktheater mit einem vielfältigeren und neugierigen Publikum.
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